Gibt es eine moralische Pflicht zum Widerstand? Das Evangelium nach Matthäus kennt die Geschichte von Herodes dem Großen, Vasallenkönig Judäas von Roms Gnaden, dem von den Heiligen Drei Königen verheißen wurde, dass ein neuer König der Juden zur Welt käme und ihn verdrängen würde. Nachdem die drei Weisen die göttliche Natur Jesu erkannt und sich Herodes' Anweisung widersetzt hatten, diesem den Aufenthaltsort des Kindes mitzuteilen, soll der erzürnte Herrscher die Ermordung jedes neugeborenen männlichen Nachkommens in Bethlehem angeordnet haben. Historisch verbürgt ist diese Geschichte nicht, es ist aber belegt, dass der ein oder andere Pfarrer in der DDR sie als Gleichnis heranzog, um das Stillhalten der Kirchen während des hemmungslosen Mordens der Nazis zu kritisieren. Lässt sich aus dem Herodes-Gleichnis also ein politischer Imperativ ableiten - etwa für die Menschen, die mitansehen, wie die Bewohner der palästinensischen Grenzstadt Bethlehems heute ihr Dasein fristen? Zu diesen Beobachtern gehören der Dokumentarfilmer Robert Krieg und seine Partnerin Monika Nolte, deren Weg nicht zum ersten Mal in die Geburtsstadt Jesu führt: Dort entstand bereits 1989 der Film „Intifada - Auf dem Weg nach Palästina". Im Stile von Michael Apteds „Up"-Reihe sucht Krieg nun erneut seine Protagonisten von damals auf. Leider verzettelt sich der Regisseur mit seiner Dokumentation „Kinder der Steine - Kinder der Mauer" jedoch in den Unwägbarkeiten des brisanten Nahost-Konflikts.
Ausgangspunkt für den Film ist ein Schwarz-Weiß-Foto, das sechs Jungen während der ersten Intifada zeigt, die Hände lachend zum Victory-Zeichen erhoben. Der Aufstand der Palästinenser 1989 ist inzwischen gute 20 Jahre her, die Knaben mittlerweile zu Männern gereift. Doch was ist aus den Jungen geworden? Das ist die Frage, der sich Krieg und Nolte in „Kinder der Steine - Kinder der Mauer" widmen. Statt Unabhängigkeit gibt es heute Sperranlagen, die die Stadt und das Westjordanland vom israelischen Kernland abtrennen, die kindliche Siegeszuversicht war also verfrüht. Mit dem Foto kehren die Dokumentarfilmer nach Bethlehem zurück und suchen die drei Brüderpaare Mohamed und Khader, Mohanad und Mosa sowie Baha'a und Mohamed auf, die als Tagelöhner ein eher schlechtes als rechtes Auskommen finden. Einige träumen noch immer von einem palästinensischen Staat, andere würden gerne wieder in Israel arbeiten, so wie vor dem Bau der Mauer. Aber auch ein Traum vom Auswandern hat sich in ihnen festgesetzt.
Und hier offenbart sich bereits der entscheidende Hemmschuh des Konzepts, dem Krieg und Nolte folgen. Die Männer, denen sie ihre Dokumentation widmen, sind Gelegenheitsarbeiter, Ehemänner, Familienväter, die Jungen von vor 20 Jahren sind zu Durchschnittstypen geworden, deren Leben sich als nicht übermäßig interessant erweist. Krieg verzichtet darauf, dieser Feststellung durch einen klar definierten individuellen Zugriff etwas entgegenzusetzen und enthält sich zudem eines durchgehenden Kommentars. Doch dieser wäre notwendig gewesen, um den Finger auch mal in die Wunde zu legen und die Protagonisten aus der Reserve zu locken. Wenn zum Beispiel an einer Stelle Israel für die innere Spaltung der Palästinenser in die Lager Fatah und Hamas verantwortlich gemacht wird, geben Krieg und Nolte alleine durch ihre Zurückhaltung fadenscheiniger anti-israelischer Meinungsmache Raum. Zur Pflicht des guten Chronisten hätte dort durchaus eine stärkere Problematisierung der Äußerungen der sechs Protagonisten gehört.
Bei einem so aufgeladenen Thema wie dem Nahost-Konflikt grenzt es an Fahrlässigkeit, nur einseitig simple Reflexe auszunutzen. In der Tatsache, dass außer den sechs Jungen auf dem Foto und ihren Verwandten niemand zu Wort kommt, liegt die Krux. Ein gutes Beispiel ist eine Szene, in der die Freunde vor einer Karte Israels sitzen und den Verlauf der Mauer mit dem der Grenze von 1948 vergleichen. Ganz so, als wäre seitdem nichts vorgefallen. Eine Analyse des Konflikts anhand des umstrittenen israelischen Siedlungsbaus in den palästinensischen Autonomiegebieten andererseits endet an den Zäunen der jüdischen Gemeinden. Um die Beantwortung der Eingangsfrage vorwegzunehmen: Wie so oft bleibt die Solidarität auch hier rhetorisch.
Fazit: In Sachen Tempo und Aufbau lässt sich an „Kinder der Steine - Kinder der Mauer" nicht viel aussetzen. Die Doku ist ordentlich umgesetzt und zeigt, dass es sich bei Krieg und Nolte um Routiniers ihres Fachs handelt. Mit der Idee, sich einem solch komplexen Thema anhand des Lebenswandels sechs junger Männer anzunähern, ist im Fall von „Kinder der Steine - Kinder der Mauer" aber einfach kein Staat zu machen.