Wer Ulrich Seidls „Models“ und „Hundstage“ kennt, wird darauf vorbereitet sein, dass es auch in „Jesus, du weißt“ nicht besonders angenehm zugeht. In seinem Dokumentarfilm widmet sich Seidl der Frömmigkeit seiner österreichischen Landsleute und dem Thema Glauben. Doch nicht „die Heuchelei oder Erstarrtheit, das Zeremonielle, Bigotte, autoritär Konservative oder den Kitsch an der katholischen Kirche“ habe er zeigen wollen, sondern „das intime Gebet“. Und fast nebenbei wird dem, der solchen intimen Momenten lauscht, ein Spiegel vorgehalten.
„Jesus, du weißt“ zeigt verschiedene Menschen. Er zeigt, wie sie in die Kirche treten, man sieht sie niederknien, sich bekreuzigen. Und dann beginnen sie zu Jesus Christus zu beten. Laut. Vor unseren Augen. Da ist etwa ein Student, der täglich die Messe besucht und soviel Zeit wie möglich in der Kirche verbringt, worüber er, hört man von ihm, in Streit mit seinen Eltern gerät. Er bittet Jesus um Vergebung dafür, dass auch er im Konflikt mit seinen Eltern mitunter die Kontrolle verliert sowie auch für seine Phantasien, die ihn plagen und welche er zutiefst bereut. Er bereut gleichermaßen solche, in denen er sich als Held, z. B. als Cowboy, sieht, weil er sich dafür schämt, dass er sich – so seine Begründung – nicht so annehmen kann, wie Gott ihn geschaffen hat, und auch solche, die er „erotische Phantasien“ nennt. Wenn der Zuschauer den Studenten dabei beobachtet und Zeuge des Kontrastes zwischen dessen offensichtlichem Leid und gleichzeitigem Kindlich- und Unschuldigkeit seiner Beichte, kann einem etwas mulmig werden. Es ist ein wenig wie ein nicht gewollter Blick durchs Schlüsselloch. Oder doch gewollt? Wir dürfen des weiteren dabei sein, wie eine Mutter, die genauso viel Zeit in der Kirche verbringt wie zu Hause, wo sie ihren kranken Mann pflegt, Jesus bittet, ihn dazu zu bringen, seine Krankheit anzuerkennen, oder wie eine pensionierte Chemielehrerin verzweifelt Rat sucht, weil ihr Mann sie betrogen hat…
Die Aufgabe, die sich Seidls Film stellt, nämlich „Menschen in ihrem persönlichen Gespräch mit Jesus Christus zeigen“, wirkt auf den ersten Blick wie nicht zu bewältigen. Umso erstaunlicher, dass es in „Jesus, du weißt“ dennoch gelingt, tief Gläubige zu filmen, während sie laut beten und dabei einen – mitunter schwer zu ertragenden – Blick in ihr Innerstes zu gewähren. Es ist Ulrich Seidl hoch anzurechnen, dass er es geschafft hat, diese Menschen vor die Kamera zu bekommen und bei ihren intimen Augenblicken dabei zu sein. „Jesus, du weißt“ ist ein „richtiger“ Dokumentarfilm und kein Doku-Fake oder wie „Hundstage“ „dokumentarischer Spielfilm“. Dennoch können dem Zuschauer Bedenken kommen, was die Authentizität der verschiedenen Sequenzen betrifft. Es ist nicht nur so, dass der Versuch, die intimen Momente des Gebets einzufangen durch die Präsenz einer Kamera per se weniger glaubwürdig erscheint, und dass der Betrachter wohl zu Recht skeptisch sein darf, was die Natürlichkeit der Betsituationen und -inhalte angeht; eine gewisse Irritation stellt sich beim Zuschauer auch in den Momenten ein, wenn er z. B. feststellt, dass eine junge Frau, die von Jesus Hilfestellung zur verfahrenen Situation mit ihrem Freud erwartet, der in ein Kloster zu gehen vorhat, bei zwei zeitlich länger auseinander liegenden Besuchen der Kirche dieselbe Garderobe trägt.
Formal ist der Film sehr streng aufgebaut. Die Sequenzen beginnen meist mit dem Betreten der Kirche. Danach wird abwechselnd in langen Einstellungen der gläubige Katholik gezeigt sowie dessen Blick auf den Altar imitiert. Variiert wird diese Struktur durch kurze Episoden mit (Gebets-)Chören und solchen, welche die Personen in alltäglichen Situationen zeigen. Trotz dieser „Auflockerungen“ ist „Jesus, du weißt“ dramaturgisch schlicht.
Man kann eine gewisse Peinlichkeit nicht leugnen, die man empfindet, bei derart privaten Momenten dabei zu sein. In dieser Hinsicht ähnelt „Jesus, du weißt“ in seiner Wirkung auf den Zuschauer den nachmittäglichen Talkshows im Fernsehen. Dass man trotzdem – teilweise gebannt – den Zwiegesprächen mit Jesus lauscht und angesichts der marginalen Dramaturgie, welche sich ausschließlich aus den Gebeten speist, nicht das Kino verlässt, offenbart eine möglicher Weise intendierte Funktion des Films. Dessen (Sozial-)Kritik richtet vielleicht gar nicht so sehr gegen die Frömmigkeit und die bizarren, religiösen Konstrukte der „Protagonisten“, sondern auch gegen den Zuschauer und seinen Voyeurismus. Wenn ihm während des Films das Wort „Seelenstriptease“ in den Sinn kommt und er am Ende erschrocken ist über den dargebotenen Exhibitionismus, wird er vielleicht trotzdem nicht anders können als seine eigene Funktion innerhalb des Films dazu zu denken: Er ist der Eintritt zahlende Gast. Ob Seidl ein intimer Blick auf betende Menschen bei nur sechs „Beispielen“ von sehr gläubigen Menschen gelungen ist, mag dahin gestellt sein. Der intime Blick, den der Zuschauer auf sich selbst erhaschen kann, nachdem er in Seidls „Spiegel“ geschaut hat, scheint jedenfalls eine Kinokarte wert zu sein.