Der sezierende Blick hinter familiäre Fassaden gehört spätestens seit Thomas Vinterbergs Dogma-Klassiker „Das Fest" und Jonathan Demmes eindringlichem Porträt „Rachels Hochzeit" zu den intensivsten und schwierigsten Motiven des Kinos. Dessen war sich wohl auch die Jury des letztjährigen Sundance-Festivals bewusst, als sie Sebastian Silvas unkonventionelles Familiendrama „La Nana - Die Perle" zum Sieger seiner Kategorie kürte. Nun sind Juryurteile für gewöhnlich mit äußerster Vorsicht zu goutieren. Im Falle des chilenischen Low-Budget-Streifens kann man den Damen und Herren auf den wichtigen Plätzen aber zu ihrer Entscheidung nur gratulieren, denn das Drama rund um eine chilenische Haushälterin dürfte einer der klügsten Filme sein, die das Programmkino derzeit zu bieten hat. Bereits die unkonventionelle Prämisse entpuppt sich als echter Glücksgriff: Anstatt sich der Hochs und Tiefs klassischer Verwandtschaftsverhältnisse anzunehmen, thematisiert der junge Chilene die familiären Tiefenstrukturen im Spannungsfeld von Professionalität und häuslicher Intimität. Silvas Blick auf diesen sensiblen Kontext fällt dabei ungeheuer akkurat aus und offenbart ein bewundernswertes Gespür für nicht-sprachliche Nuancen.
Seit über zwanzig Jahren kümmert sich Raquel (Catalina Saavedra) bereits um Haus und Nachwuchs des chilenischen Ehepaars Pilar (Claudia Celedón) und Mundo (Alejandro Goic). An ihrem nunmehr 41. Geburtstag ist ihr aber nicht gerade zum Feiern zumute: Seit einiger Zeit plagen sie starke Kopfschmerzen und mit der Tochter des Hauses, Camila (Andrea García-Huidobro), befindet sie sich auf Kriegsfuß. Der ausgezehrte Zustand ihrer Bediensteten ist der Herrin des Hauses nicht verborgen geblieben und so stellt sie Raquel mit der unbescholtenen Mercedes (Mercedes Villanueva) eine helfende Hand zur Seite. Doch Raquel kann sich nicht damit abfinden, ihr Territorium mit der jungen Frau teilen zu müssen. Die Lage spitzt sich zu und bald schon muss Mercedes einsehen, dass sie der intrigierenden Raquel nicht gewachsen ist...
„La Nana" wirkt auf den ersten Blick wie ein rigide inszenierter Dogma-Streifen: ungeschönte Bilder, vorgetragen mit einer voyeuristisch agierenden Handkamera, eine programmatische Abwesenheit von Filmmusik, sowie eine örtliche und zeitliche Intensivierung in einem gleich in doppelter Hinsicht sehr beengten Setting: Silva drehte seinen zweiten Kinofilm im eigenen Elternhaus, einem gutbürgerlichen Domizil. Auf dieses familiäre Idyll, das so gar nichts über die sozialen Extreme des Landes verrät, projiziert der talentierte Regisseur die Isoliertheit seiner Protagonistin. In ihrer Gebundenheit an den Ort wird auch ihr emotionales Defizit offenbar, denn offensichtlich befindet sich Raquel auf dem Entwicklungsstand einer rebellierenden Jugendlichen: Ihr fehlt es, wie man gemeinhin so schön sagen würde, an emotionaler Intelligenz. Den familiären Background der Bediensteten blendet Silva deshalb ganz programmatisch aus: „Raquel, du bist hier schon seit mehr als 20 Jahren – du bist ein Jahr vor Camila gekommen", lässt er die Herrin des Hauses zu Beginn kommentieren. Ein Mehr an Biografie bekommt Raquel darüber hinaus nicht spendiert. Mit diesem Kniff verwischt Silva die Grenzen zwischen Zugehörigkeit qua Geburt und qua Gewohnheit.
Raquels fehlende Reife wird unter anderem durch das Hereinnehmen einer latenten Sexualität bestärkt. Dabei genügt ein verschämter Blick durch die Linse der Kamera, der die entblößte Haushälterin im Badezimmerspiegel einfängt. Später ist es die Mitwisserschaft um das Aufkeimen der Lust am eigenen Körper, die Raquel zum wirksamen Machtinstrument gegen den Sohn der Familie wendet. Dabei entwickelt die sture Angestellte keine intrinsische Motivation zur Veränderung. Stattdessen stellt ihr die Familie sukzessive immer wieder externe Aushilfen zur Seite, drei an der Zahl. Die Unerfahrenheit der ersten Kontrahentin nutzt sie spielerisch aus, während die Auseinandersetzung mit der herrischen Sophie in einem physischen Eklat gipfelt, den Raquel nur schwer wegsteckt. Erst die aufgeschlossene Lucy (Mariana Loyola) bringt mit ihrem austarierten und liebenswerten Wesen schließlich die nötige Initialzündung, auch wenn Raquel ihr gegenüber erst einmal alle Schotten dicht macht. Für die Art der Inszenierung dieses Katz-und-Maus-Spiels muss man Silva ein großes Lob aussprechen: Raquels Grabenkampf wirkt oft humorvoll, aber nie lustig, da in ihrer infantilen Methodik immer wieder ihre bedauernswerte Charakterstatik zum Ausdruck kommt. „La Nana" deshalb vorschnell den schwarzhumoristischen Stempel aufzudrücken, geht an der differenzierten Intention derartiger Momente vorbei. Vielmehr liegt hierin ein schwieriger Balanceakt zwischen situativer Komik und tiefgreifender Tragik, den Silva mit traumwandlerischer Sicherheit begeht.
Catalina Saavedras Schauspiel lässt sich kaum angemessen beschreiben, man muss sie schlicht erlebt haben. Was ihr das Drehbuch an Komplexität auferlegt, lebt die chilenische Darstellerin regelrecht. Ihr körperbetont-distinguiertes Spiel trägt auf faszinierende Weise ihre innere Zerrissenheit. Es ist immer gewagt zu behaupten, eine Darstellerin trage einen ganzen Film: Hier trifft die populäre Kritikerformel aber voll ins Schwarze. Für gewöhnlich sind es eher die exaltierten Rollen, die einen talentierten Charakterdarsteller zu Höchstleistung anspornen – als Beispiel sei nur Dustin Hoffmans Vorstellung in „Rain Man" genannt. Umso bemerkenswerter ist deshalb der Kraftakt, aus einer vordergründig unspektakulären Rolle heraus eine Intensität zu entwickeln, die dem Zuschauer stellenweise den Atem raubt. Es ist kaum überraschend, dass es auch für die Chilenin Kritikerpreise hagelte. Abgerundet wird die figurative Aufstellung durch die charismatische Mariana Loyola, die als Lucy ohne Probleme gegen die freispielende Saavedras bestehen kann.
Fazit: Chile ist sicher kein Land, das regelmäßig für seine Kinoexporte abgefeiert wird. Mit Sebastian Silva hat das chilenische Programmkino aber ein Eisen im Feuer, das bereits nahezu perfekt geformt ist. Der Künstler, Musiker und Filmemacher beschert dem internationalen Kino mit seinem zweiten Film bereits ein echtes Kleinod: „La Nana - Die Perle" ist nahezu perfektes Charakterkino, das durchweg die Klasse von Vehikeln wie „Rachels Hochzeit" oder „Das Fest" erreicht.