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    88 - Pilgern auf Japanisch
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    88 - Pilgern auf Japanisch
    Von Christian Horn

    Der längste und älteste Pilgerweg der Welt ist in Japan zu finden, auf der Insel Shikoku, die er in einer 1.300 Kilometer langen Kreisbewegung entlang an 88 Tempeln umrundet. Dort soll man beim Pilgern einen gewissen Geisteszustand erreichen, den die Japaner „henro boke“ nennen. Um herauszufinden, was genau es damit auf sich hat, macht der Journalist Gerald Koll sich Anfang 2007 auf den Weg nach Shikoku, um den Pilgerweg zu bewältigen – lediglich von einer kleinen Kamera, die er selbst führt, begleitet. Herausgekommen ist ein authentischer, sperriger und gewissermaßen anarchischer Dokumentarfilm mit viel Humor. Stark ist der Film vor allem dann, wenn Koll seine aktuelle Lage reflektiert oder die Kamera unbemerkt in einer Ecke liegen lässt, während er sich mit Japanern unterhält – wobei gesagt werden muss, dass Koll kein Wort Japanisch versteht und die Japaner meist kein Wort Englisch, geschweige denn Deutsch sprechen. Etwas schwächer ist das Werk immer dann, wenn der Protagonist im Nachhinein kommentiert, er also in der Postproduktion mittels eines Off-Kommentars von der Reise berichtet und die Aufnahmen mit Hintergrundinformationen unterfüttert. Auch hier gibt es wesentliche und interessante Informationen zu vernehmen, aber insgesamt ist Koll in diesen Momenten doch zu geschwätzig.

    „88 – Pilgern auf Japanisch“ beginnt mit einer Text-Einblendung, die die Herkunft des Wortes „Pilger“ erklärt: „Fremd“, beziehungsweise „Fremder“ bedeutet das ursprünglich lateinische Wort. Und ebenso fühlt sich auch Gerald Koll, als er Shikoku erreicht. Überall wollen ihm japanische Schriftzeichen etwas sagen, was er absolut nicht versteht. Und auch die Menschen können ihm meistens nicht weiterhelfen. Der Pilgerweg ist zwar mit einer touristischen Infrastruktur versehen – überall stehen Hotels, es gibt reichlich Getränkeautomaten, Bustouren (!) und sogar ein Sammelbuch, in das man sich in jedem der 88 Tempel einen Stempel machen lassen kann, aber für westliche Touristen ist es dennoch nicht leicht: keine Zweisprachigkeit, kaum Infostellen und selbst die Banken machen Probleme, wenn man mit seiner Kreditkarte Geld abheben will. Als Folge verläuft sich Koll permanent. Es gibt Hinweisschilder, die so klein sind, dass man sie nur sieht, wenn man weiß, wo sie sind. Koll beginnt seine Reise bei Tempel Nr. 1, obwohl es eigentlich egal wäre, da der Weg ja eine Kreisbewegung markiert. Aber im ersten Tempel gibt es das Stempelbuch und allerlei andere Ausrüstung. Im Film wird in regelmäßigen Abständen der Fortschritt eingeblendet, ausgedrückt in der Anzahl der erreichten Tempel und der bewältigten Kilometer. Im Verlauf der Reise kommentiert Koll immer wieder seinen Zustand, sowohl seinen körperlichen als auch den seelischen. Ersterer bereitet erst gegen Ende Probleme: Wie erwartet, erschweren Blasen und geschwollene Füße das Fortkommen. Der seelische Zustand „leidet“ vor allem darunter, dass Koll jede Menge Zeit zum Nachdenken hat. Er stellt seine Beziehung zu anderen Menschen auf den Prüfstand und konstatiert, dass er mit jedem Kilometer egozentrischer wird und seine Gedanken sich permanent im Kreis drehen.

    Die Ästhetik des Films ist gerade so, wie man sie sich vorstellt: Mit einer wackligen Handkamera präsentiert Koll den Pilgerweg vorwiegend aus der Ich-Perspektive. Er filmt oft seinen eigenen Schatten, der vor ihm herläuft, oder lässt die Kamera liegen, um sich selbst beim Wandern zeigen zu können. In den Pilgerpausen fängt Koll die Umgebung ein: Mal filmt er ein paar ältere Japaner, die auf einem Parkplatz Golf spielen, mal eine Horde Schüler. Und immer wieder das Meer oder kleinere Seen, die er in schöne, von Spiegelungen dominierte Bilder verpackt. Die filmtechnischen Voraussetzungen könnten dabei nicht minimalistischer sein: ein Mann und eine Kamera – weniger geht nicht, wenn man einen Film drehen will. Dadurch erreicht Koll eine Authentizität, die freilich - allein schon durch das Vorhandensein der Kamera - immer wieder verzerrt wird. Koll fragt sich: „Wie authentisch kann meine Pilger-Doku sein? Ich bin nicht Pilger und Kameramann. Ich bin halb Pilger, halb Mittelsmann. Kaum bin ich Pilger, schon überlege ich, wie ich das vermitteln kann. Filme ich, denke ich: eigentlich bist du doch Pilger. Fatal! Die Kamera verändert die, die mit mir sprechen. Mich selbst auch.“ Dass Koll diese Misere im Entstehungsprozess offen legt und sie reflektiert, ist eine der Stärken des Films. Der ansonsten allzu gesprächige Kommentar macht hier Sinn: Zum einen wird der Zuschauer so darüber aufgeklärt, beziehungsweise daran erinnert, dass der dokumentarische Gestus von „88 – Pilgern auf Japanisch“ nicht ohne Risse ist. Und zweitens prüft Koll so selbst die Bilder auf ihre Authentizität.

    An anderer Stelle reflektiert Koll den Entstehungsprozess des Films aus einer anderen Perspektive: „Noch länger wird der Weg, weil ich dauernd die Kamera liegen lasse. Macht ja auch Sinn. Aber: So bin ich an vielen Orten doppelt und an keinem ganz.“ Davon erzählt Koll zu Beginn des Films, als er sich gerade von der Kamera, die auf der Straße liegt, wegbewegt. Nach ein paar Metern kehrt er um, läuft zurück zur Kamera und hebt sie auf. Dieses Bild bleibt hängen. Auch wenn Koll in der Folge bei ähnlichen Einstellungen vor dem Zurücklaufen schneidet, ist man sich als Zuschauer immer darüber bewusst, dass Koll wieder zurück zur Kamera laufen muss. Auch hier wird also, aus einer eher praktischen Perspektive, die Verfasstheit des dokumentarischen Schaffens (hier: die des dokumentarischen Filmtagebuchs) reflektiert.

    Insgesamt ist „88 – Pilgern auf Japanisch“ ein gelungener Dokumentarfilm. Immer wieder stellt Koll seine ursprüngliche Leitfrage: Was ist „henro boke“? Eine klare Antwort bekommt er darauf nicht. Die meisten Japaner verstehen ihn nicht, andere können sich ihm nicht verständlich machen. Und generell hat jeder der Gefragten eine eigene Vorstellung von „henro boke“. Es liegt also an Koll selbst, seine Frage zu beantworten. Und natürlich am Zuschauer, der ja – trotz der erwähnten Einbußen – mehr oder weniger live dabei ist. Das einzige Manko des Films ist der oft zu viel erklärende Off-Kommentar. Hin und wieder redet, redet und redet Koll, womit er von den Bildern ablenkt. Wett gemacht wird das aber durch viele wunderschöne, teils sehr humorvolle Begegnungen mit Einheimischen. Zufallsbekanntschaften, die sich nach einer gemeinsamen Tasse Tee häufig schnell wieder verflüchtigen, hinterlassen mal mehr und mal weniger Eindruck. „88 – Pilgern auf Japanisch“ wird sicher nicht jedem Zuschauer gefallen, denn es ist ein Film, auf den man sich einlassen muss; keiner, der einen mit offenen Armen umschmeichelt. Und das ist in diesem Fall auch gut so.

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