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    Gerdas Schweigen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Gerdas Schweigen
    Von Christian Schön

    „Ich träume manchmal davon. Aber dann bin ich froh, dass ich aufwache und dass es nur geträumt ist. Es ist ja nicht die Wirklichkeit.“ – Gerda Schrage hat Auschwitz überlebt und die Erinnerungen daran aus ihrem Alltag entfernt. Lediglich in ihren Träumen kehren schreckliche Bilder in ihr Bewusstsein zurück. Die Dokumentation „Gerdas Schweigen“ von Filmemacherin Britta Wauer widmet sich einem Teil von Gerdas und damit zugleich einem Teil deutscher Vergangenheit. In diesem Spannungsfeld von persönlich erlebter Geschichte und als unpersönlich wahrgenommener Geschichtsschreibung bewegt sich die kritische, aber dennoch anrührende Dokumentation.

    Geschichte kann einem auf ganz unterschiedliche Weise präsentiert werden. In der Schule lernen wir vor allem, dass sie etwas mit Zahlen zu tun hat. Die französische Revolution wird ins Jahr 1789 datiert; das Dritte Reich dauerte von 1933 bis 1945; der Holocaust forderte das Leben von ungefähr sechs Millionen Juden. Auf diese Weise stehen geschichtliche Ereignisse von hohem Rang auf einer Ebene mit unwichtigeren Geschehnissen, die weniger Reichweite hatten. Man könnte ebenso gut lernen, dass Edmund Stoiber von 1993 bis 2007 Ministerpräsident von Bayern war. So wird eine Vergleichbarkeit hergestellt, die an der Realität vorbeigeht. Ein Maßstab, an dem jedoch gut gemessen werden kann, wie stark Geschichte wirkt, sind Zeitzeugen. Dabei geht es weniger um exakte historische Fakten, als vielmehr um das emotionale Erleben. Die dritte Generation von Deutschen nach dem Ende des Dritten Reiches sieht sich mit einer Situation konfrontiert, in der nur noch wenige dieser Zeugen am Leben sind. Berichte über die Ereignisse von damals erreichen uns daher meist nur noch vermittelt über Erzählungen Dritter oder historische Dokumente.

    Man scheint ohnehin übersättigt mit Informationen über diese wichtigste geschichtliche Zäsur des vergangenen Jahrhunderts deutscher Geschichte. Kaum zählbare Dokumentationen laufen auf den Nachrichtensendern in dauernder Wiederholung, die eher zu einer Abstumpfung diesem Thema gegenüber führen als zur kritischen Auseinandersetzung. Diesem Gros der geballten Informationsmaschinerie stellt „Gerdas Schweigen“ gegenüber. In eigenwilliger Art kommt hier eine der letzten Überlebenden von Auschwitz zu Wort, die lange Jahrzehnte ihre Erinnerungen an die schlimmste Zeit ihres Lebens tief in sich verborgen gehalten hat. Die Lebensgeschichte von Gerda allein hätte genügt, um aus „Gerdas Schweigen“ eine ganz besondere Zeitzeugen-Dokumentation zu machen. Wauers Film ist aber mehr. Die Regisseurin unternimmt nämlich gleichzeitig eine Reflexion über den Journalismus, und wie er mit solchen Themen umgeht.

    Dabei kommt „Gerdas Schweigen“ zugute, dass dem Film das gleichnamige Buch zugrunde liegt, das vor wenigen Jahren für einiges Aufsehen sorgen konnte. Als der freie Journalist Knut Elstermann 2005 „Gerdas Schweigen“ der Öffentlichkeit präsentierte, stellte sich bereits die Frage, wie weit Journalismus in die private Sphäre von Personen eindringen darf, nur um den Preis, deren Geschichte ans Licht der Öffentlichkeit zu zerren. Denn das, was Elstermann in „Gerdas Schweigen“ zu erzählen hat, ist ein Teil seiner eigenen Familiengeschichte. Die Jüdin Gerda wird in den späten 30er und frühen 40er Jahren von der Familie Elstermanns aufgenommen wie eine Tochter. Er selbst lernte sie als „Tante Gerda“ kennen. Doch Tante Gerda hat ein Geheimnis, von dem eigentlich nicht gesprochen werden darf, obwohl jeder in der Familie Bescheid wusste. Gerda wurde 1944, nachdem sie es lange geschafft hatte, versteckt in Berlin zu leben, verraten und kam nach Auschwitz. Dort brachte sie ihr erstes Kind zur Welt. Dieses fiel jedoch den Experimenten von Dr. Mengele zum Opfer. Der NS-Arzt wollte wissen, wie lange Säuglinge überleben können, wenn sie nicht gestillt werden.

    Wie bei einigen anderen Frauen, wurden auch Gerda die Brüste abgebunden, um sie am Stillen zu hindern. Das Kind starb nach wenigen Wochen. Als die Front näher an Auschwitz heranrückte, und die Lagerhäftlinge umgesiedelt werden sollten, gelang Gerda die Flucht. Sie schaffte es in den Jahren danach, sich ein ganz normales Leben in der jüdischen Gemeinde von New York aufzubauen. Sie fand Arbeit, heiratete, bekam einen Sohn. Eines Tages meldete sich jedoch Besuch in Form von Knut Elstermann an, der ihre Geschichte ausgraben wollte, von der sie selbst ihrem Sohn nie etwas erzählen konnte. Der Film „Gerdas Schweigen“ greift auch diese schwierige Konstellation von Journalist, Zeitzeugin und Familienangehörigen auf. Elstermann erläutert in vielen Szenen, wie es ihm in der Zeit der Recherchen erging und welche Auswirkungen diese auf die aktuelle Situation von Gerda hatten.

    Insofern ist der Film „Gerdas Schweigen“ durchaus mehr als bloß der Film zum Buch. Beinahe nebenher wird das ergreifende Schicksal Gerdas erzählt, während beide permanent auch über das reflektieren, was sie gerade machen. Die besondere Schwierigkeit, die sich damals bei der Buchveröffentlichung stellte, war, dass Gerda nach wie vor darauf bestand, dass ihr Sohn von ihrer Vergangenheit im Lager nichts wissen sollte. Auch der orthodoxen jüdischen Gemeinde gegenüber, in der Gerda fest integriert ist, schämt sie sich für ihre Vergangenheit. Auch diese sollte nicht über die Publikation von dem Kind erfahren, das sie bekommen hat, noch bevor sie verheiratet gewesen war. Sie stimmte der Veröffentlichung daher nur zu, wenn die Auflage, das Buch nicht ins Englische zu übersetzen, eingehalten wird. Insbesondere das Verhältnis von Gerda und ihrem Sohn nimmt nun der Film „Gerdas Schweigen“ ebenfalls auf. Der große Trubel, den es um die Buchpublikation gab, machte es unmöglich, ihrem Sohn zu verheimlichen, worum es bei dem Projekt ging.

    So kam es letztlich zum Zerwürfnis zwischen Mutter und Sohn, der ohnehin einen immensen Hass auf die Täternation ausgebildet hatte. Dieses diffizile Verhältnis zu Deutschland wurde nun dadurch beschwert, dass Mutter Gerda gerade einem Deutschen ihr Geheimnis anvertraute und sie alles unternahm es ihm, zu verheimlichen. Das Finale von „Gerdas Schweigen“ ist genau diesem spannenden Konflikt gewidmet. Insgesamt gewinnt die Dokumentation genau dadurch ihren Mehrwert. „Gerdas Schweigen“ ist somit nicht nur die bewegende Geschichte eines Opfers, sondern zugleich eine Kritik an den Methoden des Journalismus. Ohne den Zeigefinger zu erheben, wird vorgeführt, dass die Vorstellung von einer wirkungslosen Geschichtsschreibung, die selbst also wiederum keine Geschichte schreibt, illusorisch ist.

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