„Ich bin ein Filmemacher, der kurze Arme hat, verursacht durch die Droge Contergan. Wer mich zum ersten Mal sieht oder trifft, reagiert darauf, wie ich aussehe. Wenn sie auch nichts sagen: Sie starren oder sie schauen weg. Sie zeigen, dass sie sich unsicher fühlen in meiner Gegenwart. Ich kann es ihnen kaum verdenken. Ich fühle mich ja selber sehr unsicher. Ich habe mich mein Leben lang unwohl gefühlt bei dem Gedanken an meine Behinderung und versucht, sie zu ignorieren und mich nicht der Wahrheit zu stellen. Vielen Behinderten fällt es schwer, das angeekelte, verwirrte oder mitleidige Starren ihrer Mitmenschen in der Öffentlichkeit zu ertragen. Die Gesellschaft muss sich an unseren Anblick gewöhnen und davon wegkommen, uns wie Wesen von einem anderen Planeten zu sehen. Natürlich sehen wir anders aus, aber man kann darüber hinaus schauen. Ich sehe einen Weg, der dahin führen kann.“ - Niko von Glasow
Stellen Sie sich vor, Sie hätten anstelle ihrer Arme nur verkürzte Extremitäten – und das nur, weil ihre Mutter während ihrer Schwangerschaft eine Schlaftablette genommen hat, die damals gerade rezeptfrei auf den Markt gekommen war. Von Oktober 1957 bis November 1961 produzierte und vertrieb die Chemie Grünenthal unter dem Markennamen Contergan den Wirkstoff Thaliomid, der sich als wirksames Mittel gegen Schwangerschaftsübelkeit herausgestellt hatte und auch als nicht süchtig machendes Schlaf- und Beruhigungsmittel für Schwangere erprobt schien. Die schwerwiegenden Nebenwirkungen des einstigen Wundermittels sind heutzutage natürlich hinlänglich bekannt. Auch der in London lebende Regisseur Niko von Glasow kam 1960 in Köln mit einer durch Contergan verursachten Behinderung zur Welt. Vor seinem Doku-Projekt „Nobody’s Perfect“ wäre es für ihn undenkbar gewesen, mit seinem Sohn Mandel einfach im Meer baden zu gehen. Zu sehr fürchtete er die skeptischen Blicke seiner Umwelt. Eines Tages erhielt von Glasow vom WDR das Angebot, einen Film über sein Leben als Contergan-Behinderter zu machen, doch der Regisseur lehnte zunächst ab. Um sich seinen Ängsten und Komplexen endlich zu stellen, willigte er schließlich aber doch ein. In „Nobody’s Perfect“ begibt sich von Glasow auf die Suche nach elf Leidensgenossen, die selbstbewusst genug sind, sich gemeinsam mit dem Filmemacher für einen Bildband nackt (!) fotografieren zu lassen.
Niko von Glasow hat faszinierende Menschen mit völlig unterschiedlichen Lebensweisen und beruflichen Hintergründen für sein Projekt gefunden: zum Beispiel den Astrophysiker Stefan Fricke, der einen IQ von über 130 hat und von seiner vietnamesischen Frau verlassen wurde – nur ein paar verstaubte Origami-Vögel sind ihm geblieben. Oder die Silbermedaillengewinnerin im Dressurreiten bei den Paralympischen Spielen 2004 in Athen, Bianca Vogel, die sich unbedingt gemeinsam mit ihrem geliebten Pferd Roquefort fotografieren lassen möchte. Auch in seiner Wahlheimat Großbritannien fand von Glasow drei Mutige für seinen Film und das Fotoprojekt: etwa den attraktiven Theaterschauspieler Mat Fraser, der keinerlei Hemmungen hat, vor der Kamera die Hüllen fallen zu lassen. Oder die aus Belfast stammende Sängerin, Autorin und Politikerin Kim Morton, die einst durch ihr politisches Engagement und einen Hungerstreik eine hohe Entschädigung für britische Contergan-Opfer erwirkte, auf die deutsche Geschädigte nur neidisch schielen können.
Mit einer Mischung aus charmanter Leichtigkeit, viel schwarzem Humor und aufregenden Persönlichkeiten hat es Niko von Glasow geschafft, einen Film zu machen, der nicht nur jammert oder verurteilt, sondern die Menschen hinter der Behinderung zeigt. Doch das Ergebnis ist nicht einfach nur das Porträt von zwölf Menschen, die mit einer Behinderung zur Welt kamen, sondern auch eine Suche nach der eigenen Persönlichkeit, nach dem richtigen Verhältnis zum eigenen Körper und eine bissige Kampfansage an das Unternehmen Grünenthal und die Eigentümerfamilie Wirtz. Mit einer sympathischen Penetranz versucht von Glasow etwa zum jungen Sebastian Wirtz, der als Mitglied der Geschäftsführung der Grünenthal GmbH fungiert, Kontakt aufzunehmen, um ihm ein lebensgroßes Nacktfoto von sich zu überreichen.
Ein weiteres Highlight sind die Diskussionen zwischen von Glasow und Mat Fraser in einem Londoner Taxi. Der extrovertierte Schauspieler will nicht einsehen, warum die Einnahmen des geplanten Bildbandes für einen guten Zweck gespendet werden sollten. Für ihn steht fest, dass er seine Gage behalten will. Warum muss es auch stets um Wohltätigkeit gehen, nur weil Behinderte an der Aktion teil haben? Doch nicht nur die lustigen, auch die sensiblen Augenblicke wirken nie aufgesetzt. Die zwölf Fotos wurden übrigens nicht nur in einem Bildband veröffentlicht, sondern auch an diversen öffentlichen Orten wie etwa dem Domplatz in Köln ausgestellt, wo sie zu kontroversen Diskussionen anregten, die nun auch ihren verdienten Platz in der Dokumentation gefunden haben.
Gerade erst wurde der maximale monatliche Entschädigungssatz für die rund 2.500 heute noch in Deutschland lebenden Contergangeschädigten von 545 auf maximal 1.090 Euro erhöht – allerdings überweist diesen Betrag nicht etwa die Firma Grünenthal, sondern der Staat. Dabei fährt die Wirtz Firmengruppe, der unter anderen auch die Produktlinien 4711, Tosca und S. Oliver zugehören, auch heute noch Milliardenumsätze ein. Bis zum heutigen Tag haben sich außerdem weder die Firma Grünenthal noch die Familie Wirtz bei den Betroffenen offiziell entschuldigt. Der Strafprozess, zu dem es 1968 zwischen Grünenthal und drei Staatsanwälten sowie 312 Nebenklägern kam, wurde nach einer Entschädigungszahlung von schlappen 100 Millionen Mark, die bereits 1987 wieder aufgebraucht war, aufgrund angeblich geringfügiger Schuld und mangels öffentlichen Interesses nach § 153 StPO eingestellt.
Fazit: „Nobody’s Perfect“ ist eine ebenso augenzwinkernde wie intime Dokumentation, die in ihren bissigsten Momenten an die Werke von Michael Moore (Bowling For Columbine, Fahrenheit 911, Sicko) erinnert. Doch wer könnte die Motivation für den Film besser ausdrücken, als Regisseur Niko von Glasow höchstpersönlich: „Ich wollte meine größte Angst überwinden, nämlich das Hinschauen auf meine Behinderung. Und ich wollte den Menschen einen lustigen und interessanten Film zeigen, um meine Theorie zu bestätigen, dass, wenn man längere Zeit mit Behinderten zusammen ist, sich an sie gewöhnt und nach 90 Minuten als ganz normal sieht. Die Lebenslust, die Freude und der Humor, den dieser Film ausstrahlt, sind mir besonders wichtig.“