Der Roman „Jane Eyre" der britischen Autorin Charlotte Brontë gilt als Klassiker der viktorianischen Romanliteratur des 19. Jahrhunderts und diente als Vorlage für zahlreiche Theater-, Film- und Fernsehproduktionen. Renommierte Mimen wie Orson Welles, Timothy Dalton, William Hurt und Charlotte Gainsbourg wirkten in den diversen filmischen Interpretationen des anhaltend faszinierenden Stoffes mit. Nun wagt sich auch der US-amerikanische Regisseur Cary Fukunaga an Brontës Erzählung – und schafft eine Neuinterpretation, die zu den stärksten Adaptionen des Romans von 1847 zählt. Mit intensiv aufspielenden Darstellern und konzentrierter Regie gelingt ihm ein bewegender, mysteriös-melancholischer Film über eine starke Persönlichkeit und eine sagenhafte Liebe.
Jane Eyre (Mia Wasikowska) stammt aus ärmlichen Verhältnissen und wächst nach dem Tod ihrer Eltern bei wohlhabenden Verwandten auf. Aufgrund ihres Standes wird sie in der neuen Familie nie gleichwertig behandelt. Ihre Kindheit ist geprägt durch Einsamkeit und Ablehnung. Als sich Jane gegen die unwürdige Behandlung auflehnt, eskaliert der Konflikt und sie wird auf ein Internat verbannt. Als sie eine Einstellung als Gouvernante auf dem Anwesen Thornfield Hall findet, nimmt ihr Leben erstmals eine glückliche Wendung. In der Haushälterin Mrs. Fairfax (Judi Dench) findet sie eine enge Vertraute und einen Menschen, der sie als gleichberechtigte Person behandelt. Dann trifft sie auf den undurchschaubaren und schroffen Hausbesitzer Edward Rochester (Michael Fassbender) – zwischen den so unterschiedlichen Menschen entwickelt sich bald ein außergewöhnliches Verhältnis...
Mit seinem Langfilmdebüt „Sin Nombre" konnte Cary Fukunaga den Regie-Preis auf dem Sundance Filmfestival 2009 abstauben, auch die Kritik reagierte größtenteils äußerst angetan. Nach der Erkundung des Seelenlebens eines mexikanischen Gangsters also widmet sich Fukunaga nun dem Leben einer Frau aus niederem Stande im England des 19. Jahrhunderts. Für Fukunaga ist „Jane Eyre" die logische Fortführung von „Sin Nombre": In beiden Filmen erzählt er vom Versuch eines Neuanfangs, vom Kampf um Selbstbestimmung und von der Hoffnung, aus gesellschaftlichen Zwängen auszubrechen. Aufgrund der kargen visuellen Gestaltung und des entschleunigten Erzählstils wirkt „Jane Eyre" wie aus einer anderen filmischen Epoche. Fukunaga nimmt sich viel Zeit für seine Protagonistin, skizziert in Rückblenden eine traurige Kindheit und beobachtet Janes Aufstieg zur Gouvernante in Thornfield Hall. Ein Spannungsbogen ist dabei kaum auszumachen, die Vorlage besticht ohnehin seit je her mit anderen Qualitäten.
Sensibel loten Fukunaga und seine Hauptdarstellerin Mia Wasikowska Janes Innenleben aus. Die junge Australierin konnte ihr Potenzial bereits in Tim Burtons „Alice im Wunderland" und dem Oscar-nominierten Familiendrama „The Kids Are All Right" andeuten – mit Brontës Klassiker geht sie den nächsten Schritt. Die gereifte Darstellerin braucht kaum mehr als einen einzigen ausdrucksstarken Blick, um die Zerrissenheit ihrer Figur zu vermitteln und Janes Schicksal unmittelbar greifbar zu machen. Ihr männlicher Gegenpart steht ihr in nichts nach: Die Leinwandpräsenz des deutsch-irischen Shooting-Stars Michael Fassbender („X-Men: Der letzte Widerstand") ist schier überwältigend. Seine Figur pendelt zwischen distanzierter Kälte und leidenschaftlichem Weltschmerz; eine Ambivalenz, die Fassbender glänzend ausspielt.
Ergänzt werden die wunderbar miteinander harmonierenden Hauptdarsteller durch eine Nebendarstellerriege, die mit britischen Charaktergesichtern wie Jamie Bell („Hallam Foe"), Judi Dench („Tagebuch eines Skandals") und Sally Hawkins („Alles, was wir geben mussten") besetzt ist. Besonders in den stillen Momenten spornt Fukunaga sein Ensemble zu Höchstleistungen an. Mit flüchtigen Blicken, Gesten und knappen Dialogen wird eine weite emotionale Bandbreite abgetastet. Selbst die expliziten Gefühlsäußerungen – Tränen auf Janes bleichen Wangen, leidenschaftliche Eruptionen des sonst so verschlossenen Edward – wirken hier nicht kitschig, dafür agieren Wasikowska und Fassbender schlichtweg zu würdevoll.
Bis zum imposanten Schlussakt hält Fukunaga das Niveau, schafft ein kunstvoll reduziertes, präzise durchkomponiertes Filmgemälde und begegnet seinen vielen „Jane Eyre"-Vorgängern mit bemerkenswertem Selbstbewusstsein: Ja, er ist der Richtige, um den klassischen Stoff über irrfahrende Seelen und einen besonderen Ort inmitten weiter, karger Landschaft ein weiteres Mal zu erzählen, das weiß er ganz genau und das lässt er auch sein Publikum wissen. Fukunagas Brontë-Adaption ist ein kraftvolles Kino-Essay über gesellschaftliche Schichtung und grenzüberschreitende Liebe, ein Film, an dem sich künftige „Jane Eyre"-Anläufe messen müssen – und der bestmögliche Grund, Mia Wasikowska und vor allem Michael Fassbender die Daumen für einen baldigen, ganz großen Durchbruch zu drücken.