Es lässt sich durchaus behaupten, dass Wong Kar-wai viele Male denselben Film gemacht hat. Schließlich ist das bisherige Werk eine Variation der immer gleichen Themen: Kar-wai dreht Filme über die Liebe, die Einsamkeit, die Zeit – alles in allem also über das Dilemma des modernen Menschen, das er in großer Symbolik immer wieder beschwört. Ein wichtiger Schlüssel zum Motivfundus des Hongkong-Chinesen ist seine zweite Regiearbeit, der mit vielen asiatischen Filmpreisen ausgezeichnete Episodenfilm „Days Of Being Wild“. Hier legte der Regisseur den definitiven Grundstein zu seinen weiteren Filmen - sowohl stilistisch (es ist die erste Zusammenarbeit mit seinem Stammkameramann Christopher Doyle) als auch thematisch. Eine kaum übertriebene These ist, dass „Days Of Being Wild“ die Blaupause für das bisherige Oeuvre Wong Kar-wais darstellt: Alle späteren Werke des Regisseurs, von Chungking Express über Fallen Angels bis hin zu 2046, klingen hier bereits auf vielfältige Weise an.
Wie in vielen anderen Filmen Wong Kar-wais gibt es auch in „Days Of Being Wild“ keinen Plot im herkömmlichen Sinne. Vielmehr besteht der in den Sechzigerjahren angesiedelte Film aus lose ineinander verschränkten Episoden. Als zentrale Figur lässt sich ein von Leslie Cheung (A Chinese Ghost Story) verkörperter Don Juan ausmachen, der ohne Rücksicht auf die Gefühle seiner Liebhaberinnen in den Tag hinein lebt. Im Verlauf des Films entzieht er sich seiner lieblosen Adoptivmutter und begibt sich auf die Suche nach seiner leiblichen Mutter. Wong Kar-wai folgt ihm elliptisch auf seiner Reise und verweilt in locker erzählten Parallelhandlungen bei zurückgelassenen Geliebten, einem Hongkonger Straßenpolizisten und anderen Figuren, die in einer Beziehung zu Leslie Cheungs Charakter stehen.
Neben Leslie Cheung treten eine Reihe anderer Stars des Hongkong-Kinos auf: Maggie Cheung (In The Mood For Love), Jacky Cheung (Bullet In The Head), Carina Lau („2046“), Andy Lau (Infernal Affairs) und – in einem sehr kurzen Gastauftritt gegen Ende – Tony Leung Chiu-wai (Hard Boiled). Sie alle verzweifeln an ihrer Einsamkeit, sind zur gefühlsmäßigen Öffnung einem Anderen gegenüber jedoch unfähig. In seinem Standardwerk „Film ohne Grenzen – Das neue Hongkong-Kino“ beschreibt der Filmkritiker Ralph Umard die Figuren und ihre Situation sehr treffend: „Über dem ganzen Film scheint eine schwüle Hitze zu liegen, in der sich die Figuren bewegen wie halbersoffene Fliegen in der Milchsuppe.“ Inhaltlich umkreist „Days Of Being Wild“ diese emotionale Trägheit der Figuren und die daraus resultierende Isolation, wobei er sein Thema in Bildern, Momenten und einzelnen Szenen auflöst, in Metaphern, Zeichen und Symbolen - und eben nicht in einer konventionellen Dramaturgie. Als Essay oder Mosaik lässt sich „Days Of Being Wild“ womöglich am besten beschreiben. Und dennoch wirkt er am Ende stimmig, stringent und zusammengehörig.
Einen wesentlichen Beitrag zum Zusammenhalt der einzelnen Episoden liefern die konsequent wiederholten Motive, dieselben Motive, die in Wong Kar-wais Werk immer wieder auftauchen: Spiegelungen und Gitter, Regen und Wasser, Uhren und Zigarettenqualm – alles Bilder der Flüchtigkeit, des Zerrinnens und des Eingesperrtseins. Zudem vollendet sich in „Days Of Being Wild“ die spezifische Inszenierungsweise Wong Kar-wais, die bereits in As Tears Go By vorhanden war, sich aber erst in seinem zweiten Film vollends durchsetzt: die Dominanz der Musik, der Einsatz von Zeitlupen, die hochgradig stilisierten Bilder Christopher Doyles, der lockere Umgang mit der Narration. Dass Wong Kar-wai ein großer Verehrer Jean-Luc Godards (Die Verachtung) ist, lässt sich an der experimentellen Inszenierung von „Days Of Being Wild“ hervorragend ablesen. Das fängt schon bei der ersten Einstellung an, die ein leuchtendes „Coca Cola“-Werbeschild zeigt. Wieder Ralph Umard: „Days Of Being Wild‘ könnte Anfang der 60er in Paris entstanden sein – der Film hat etwas zutiefst Existenzialistisches, man erwartet förmlich, dass Jean-Paul Sartre irgendwann auf der Bildfläche erscheint.“
Ein wenig mehr als bei anderen Regisseuren kann Wong Kar-wais Filmographie als eine Art Netzwerk begriffen werden. Verschiedene Figuren, Situationen, Kameraeinstellungen und dergleichen tauchen immer wieder auf. Manchmal greift Wong Kar-wai auf einen Moment aus einem älteren Film zurück, lässt eine Figur (mitunter auch von einem anderen Schauspieler verkörpert) in einem gänzlich anderen Zusammenhang wieder auftauchen, spezifiziert einen bestimmten Moment im Nachhinein (dann eben in einem anderen Film) oder bereitet eine Situation vor, auf die er erst drei Filme später zurückkommt. Dieses für Autorenfilmer recht typische Wesensmerkmal findet sich bei Wong Kar-wai in einer sehr wilden Art und Weise so deutlich, dass es schon einen leichten Beigeschmack von Redundanz innehat. In „Days Of Being Wild“ breitet sich ein ganzes Sammelsurium solcher Verbindungen aus: ein Streifenpolizist, der aus „Chungking Express“ entlaufen sein könnte, eine Frau, die wie in „Fallen Angels“ mit einem Kleid auf dem Bett liegt, das Geräusch von Stöckelschuhen auf dem Asphalt, Musik aus „2046“ und ganz am Ende Tony Leung Chiu-wai im Sechzigerjahre-Anzug, der sich vor dem Spiegel zurecht macht als wäre es die Garderobe zu „In The Mood For Love“. Tatsächlich war zu „Days Of Being Wild“ eine Fortsetzung geplant, die jedoch nicht zustande kam und erst mit „In The Mood For Love“ eine Art verspätete Realisierung fand, auch wenn man hier eher von einer Schnittstelle als von einem Sequel sprechen kann. Ein Bild jedenfalls spielt in beiden Filmen eine zentrale Rolle: Maggie Cheung in einem eleganten Kleid, wie sie im Regen an eine verfallene Wand gelehnt dasteht.
Man kann sich durchaus aufreiben an Wong Kar-wai. Seine Filme sind prätentiös, oberflächlich und redundant, gleichzeitig aber poetisch, philosophisch und großartig. Dennoch war „Days Of Being Wild“ trotz Star-Ensemble kein kommerzieller Erfolg beschieden, dafür ist der Film den Sehgewohnheiten des Publikums entschieden zu widerläufig. Im Werk Wong Kar-wais ist er jedenfalls ein Meilenstein und sollte sich nach My Blueberry Nights tatsächlich nichts mehr tun (was zu befürchten ist), ist der zweite Film des stilprägenden Regisseurs immer noch bestens dazu geeignet, sich an dessen wilde Tage zu erinnern.