Knapp zwei Dekaden sind seit dem Mauerfall verstrichen. Dass die Deutsche Wiedervereinigung nicht mit dem niederreißen der Mauer getan war, sondern vielmehr einen andauernden Prozess darstellt, wurde zuletzt durch die Kontroverse um Die Linke einmal mehr deutlich. Abseits politischer Positionierung war die filmische Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit in den vergangenen Jahren ausgesprochen vielfältig. Während Filme wie Sonnenallee oder NVA als harmloser Klamauk daherkamen, stellte sich Good Bye, Lenin! 2003 unter der komödiantischen Oberfläche durchaus nachdenklich dar: Beim Versuch, die DDR zur Beruhigung seiner labilen und linientreuen Mutter nachzustellen, setzt Daniel Brühl den sozialistischen Alltag als sehnsüchtigen Traum nach Geborgenheit um, der sich spätestens nach 1989 als Illusion herausstellte. Auch die TV-Landschaft hat das Thema von verschiedenen Seiten beleuchtet – von naiven Ostalgie-Shows bis hin zu zahllosen Dokumentation. Ist zu diesem Thema also inzwischen alles gesagt worden, oder gibt es noch weitere, lohnenswerte Perspektiven? Überraschenderweise lautet die Antwort tatsächlich: Ja, es gibt sie. 2007 veröffentlichte der Kölner Bestseller-Autor Richard David Precht seinen autobiographischen Roman „Lenin kam nur bis Lüdenscheid“, in dem er sich an seine Kindheit als linker Kosmos in Solingen erinnert. Die Kinoumsetzung von Dokumentarfilmer André Schäfer ist nun eine amüsante Retrospektive geworden – angenehm unprätentiös, allerdings auch sehr harmlos.
1964 erblickt Richard David Precht in Solingen das Licht einer Welt, die ihm seine linken Eltern sorgfältig in Gut und Böse einteilen. Gut, das sind die vorausdenkenden Kommunisten; böse, das sind die zerstörerischen Kapitalisten, in deren Mitte die Familie Precht zu ihrem Leidwesen lebt. Ihren ganz eigenen Widerstand gegen die westdeutsche Lebensweise äußert die junge Familie mit der Adoption zweier vietnamesischer Kriegswaisenkinder, antiautoritärer Erziehung und kommunistischer Lektüre. Der kleine Richard ist freilich noch nicht in der Lage, sozialistische Träume und Politik auseinanderzuhalten, und so hilft er einfach mit kindlicher Phantasie nach, wo die Realität nicht ausreicht: die Großartigkeit der DDR wird ihm schon durch die Größe des Berliner Zoos ersichtlich, und die moralische und technologische (!) Überlegenheit der Sowjetunion steht ohnehin außer Frage. Je älter er wird, desto mehr muss er sich allerdings mit der Wirklichkeit auseinandersetzen und akzeptieren, dass selbst Linke Mörder sein können. Abseits seiner Familie sucht Richard fortan nach einer eigenen Identität…
Im Mittelpunkt von „Lenin kam nur bis Lüdenscheid“ steht eine Coming-of-Age-Story, verdeutlicht anhand der Auseinandersetzung eines Heranwachsenden mit den großen Themen seiner Zeit. Der Sozialismus repräsentiert die heile Welt der Kindheit, die schrittweise kritischer hinterfragt wird und - unabhängig von Richards Alter - mit dem Mauerfall endgültig endet. Hier erinnert der Film nicht nur durch seinen Titel an Good Bye, Lenin!, der den sozialistischen Traum ebenfalls als Zufluchtsphantasie aufarbeitet. Bei der Inszenierung hört die Vergleichbarkeit allerdings wieder auf, denn Schäfer hat keinen Spielfilm sondern eine Dokumentation gedreht. Der Doku-Begriff ist in diesem Fall allerdings mit Vorsicht zu genießen, da die Geschichte eine zutiefst subjektive Nacherzählung aus den Augen eines Kindes ist. Eher handelt es sich um eine filmische Retrospektive, eine Mischung aus historischem und privatem Archivmaterial und mitgefilmten Begegnungen Prechts mit den Personen und Orten seiner Kindheit.
Erzählerische Struktur erhalten die sprunghaften Bilder durch Prechts Kommentar, der in kindlich-einfacher Sprache gehalten ist. Das ist gewöhnungsbedürftig und gelegentlich wirkt ein „klingt komisch – ist aber so!“ à la Peter Lustig nicht weit weg. Trotzdem passt der Kommentar, da so gerade die naive und unschuldige Perspektive eines Kindes nachvollziehbar vermittelt wird. Nebenher kommen auch die Familie und andere Zeitgenossen zu Wort. Die Familienanekdoten können zwar milde amüsieren, sind aber eigentlich belanglos. Interessant wird der Film, wenn die kritische Auseinandersetzung in den Mittelpunkt rückt. So begegnet Precht seinem ehemaligen Mathematiklehrer, der sich daran erinnert, dass Richard das einzige Kind ohne Taschenrechner gewesen sei – immerhin stammten die von Texas Industries und waren somit kapitalistisches Hexenwerk. Hier bricht der harmlose Ton auf. War es verantwortungslos, den ideologischen Kampf der Mutter auf den Schultern ihres Sohnes auszutragen und damit seine Schullaufbahn zu gefährden? Dieser Ansicht ist zumindest der ehemalige Lehrer. Leider verzichtet Schäfer auf eine direkte Auseinandersetzung Prechts mit diesem vorsichtigen Vorwurf. Auch die Frage, warum die Familie trotz DDR-Begeisterung nicht dorthin ziehen wollte, eröffnet Spielraum. Aber auch hier muss man sich mit wenig zufriedengeben. Die Mutter war eben der Ansicht, der Vater würde dort keinen Job finden – eine interessante Aussage. Gerade hier wäre mehr Mut zur Hinterfragung wünschenswert gewesen, denn eben durch seine naive Sicht auf die DDR aus westlich-linker Perspektive hat der Film überhaupt etwas Neues zum Thema beizutragen. Stattdessen wird der Familienchronik mehr Raum gegeben. „Lenin kam nur bis Lüdenscheid“ ist im Kern eben primär eine Autobiographie.
Was Schäfer glücklicherweise vermeidet, ist eine tendenziöse Perspektive. Weder wird sozialistische Realpolitik verharmlost oder romantisiert, noch stellt er die Ideologie ausschließlich als Kindertraum dar. Der unschuldige Kinderblickwinkel bleibt die ganzen 88 Minuten über spürbar. Gelegentlich ermöglicht dies humoristische Spitzen, die angenehm auflockernd wirken. Beispielsweise kommentiert Precht ein damals hitzig verfolgtes Fußballspiel der BRD gegen die mauernden (!) DDR-Spieler mit einem schmunzelnden „was sonst?“. Oder er macht sich mit seiner Schwester auf liebevolle Art über die Prüderie der Eltern lustig, die die sexuelle Revolution scheinbar verschlafen haben. Und wenn Precht zum Schluss vom Mauerfall als Ende seiner Kindheit erzählt, und sich fragt, was drüben so katastrophal falsch gelaufen sein muss, dass das edle Proletariat jubelnd am Brandenburger Tor feiert, gewinnt der Film endlich emotionale Tiefe.
„Lenin kam nur bis Lüdenscheid“ hat durch die Kind- und Westperspektive durchaus etwas zu sagen. Eine Kinoleinwand braucht die Geschichte nicht unbedingt, denn dafür verfängt sie sich zu häufig in einer Familienchronik, die zwar nette Anekdoten zu bieten hat, ansonsten aber nicht sonderlich aufregend ist. Der Bezug zur Zeitgeschichte geht dabei zwar nie verloren, ein mutigeres Nachfragen hätte den Film allerdings aussagekräftiger gestaltet. Für eine kleine und unverfängliche Reise in die unmittelbare deutsche Vergangenheit reicht es aber allemal. Und während die Kontroverse um den politischen Nachhall der DDR in Form der Linken weiter wogt, ist es durchaus angenehm, wenn ein Beitrag zum Thema mal so erfrischend unpolemisch daherkommt.