50 Prozent der Geschäfte sind in Mafiahand, rund 4.000 Morde in den vergangenen 30 Jahren gehen auf das Konto der Camorra: Es ist ein düsteres Bild, das der Journalist Roberto Saviano in seinem Tatsachenroman „Gomorrha – Reise in das Reich der Camorra“ (2006) von seiner Heimat Kampanien zeichnet. Das Buch, inzwischen weltweit zum Bestseller avanciert, rückte die Camorra, die vielleicht mächtigste - aber bis dahin dennoch eher unbekannte - kriminelle Organisation der Welt, ins Licht der Öffentlichkeit. Nun – gerade einmal zwei Jahre später - kommt Matteo Garrones gleichnamige Verfilmung ins Kino. Der Film erzählt in fünf Episoden, wie die Camorra das Leben der Bewohner Kampaniens beeinflusst, und erweist sich dabei als ebenso bedrückend und beeindruckend wie die literarische Vorlage.
Der dreizehnjährige Totò (Salvatore Abruzzese) träumt bereits davon, einer der einflussreichen Mafia-Familien anzugehören. Als er bei einer Razzia in seinem Wohnblock einen kühlen Kopf bewahrt und eine heiße Waffe versteckt, ist seine Chance gekommen – er wird in einen Clan aufgenommen. Doch ein sich anbahnender Bandenkrieg zwingt ihn bald dazu, sich zwischen seinem Clan und seinen Freunden zu entscheiden. Auch Don Ciro (Gianfelice Imparato), der als Buchhalter für die Mafia fungiert und den Familienangehörigen inhaftierter oder toter Mitglieder Geld überbringt, bekommt die Auswirkungen des Bandenkrieges zu spüren: Als die Gewalt im Viertel eskaliert, gerät er bei seinen Geldübergaben zunehmend in Lebensgefahr. Die beiden Halbstarken Marco (Marco Macor) und Ciro (Ciro Petrone) möchten so sein wie Tony Montana in Scarface und eifern ihrem Idol mit immer wagemutigeren Raubüberfällen nach. Roberto (Carmine Paternoster) hat gerade die Uni absolviert und bekommt von Franco (Toni Servillo) das Angebot, in das Müllbeseitigungsgeschäft der Camorra einzusteigen. Anfangs von den verlockenden Aussichten geblendet, quälen ihn bald erste Gewissensbisse. Pasquale (Salvatore Cantalupo) zählt zu den besten Schneidern der Welt – und arbeitet für einen Hungerlohn in einer illegalen Textilfabrik im Umland von Neapel. Mit der Aussicht auf größere Anerkennung und eine bessere Bezahlung, beginnt er, für die chinesischen Wettbewerber Schneider auszubilden – mit verheerenden Folgen…
Bei dem Erfolg des Romans – allein in Italien verkaufte sich das Buch über 1,3 Millionen Mal und auch in Deutschland kletterte es auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste – war eine Verfilmung eigentlich nur eine Frage der Zeit. Auch wenn die Brisanz der Vorlage (Roberto Saviano steht inzwischen rund um die Uhr unter Polizeischutz und ist gezwungen, ständig seinen Wohnort zu wechseln) die Dreharbeiten nicht gerade zu einem ungefährlichen Unterfangen machte. Die insgesamt sechs Drehbuchautoren, darunter auch Saviano und Regisseur Matteo Garrone, haben sich schließlich dazu entschlossen, fünf Einzelschicksale aus dem Roman aufzugreifen und umzusetzen. Das bringt gleich zwei Vorteile mit sich: Zum einen erleichtert die Fokussierung auf eine vergleichsweise überschaubare Anzahl an Charakteren den Einstieg in die Erzählung, immerhin drohte der Roman den Leser stellenweise mit Namen und Fakten schier zu erschlagen. Zum anderen zeigen die fünf Episoden trotz ihres Schlaglichtcharakters dennoch auf vielschichtige Weise, wie das Leben in Kampanien durch die Camorra geprägt wird.
Die Camorra selbst bleibt dabei – unsichtbar und doch allgegenwärtig – als verborgener Strippenzieher im Hintergrund, der Begriff „Camorra“ fällt im Film kein einziges Mal. Daher erübrigt sich auch der Vergleich mit klassischen Mafiafilmen wie Der Pate oder GoodFellas, die eher am oberen Ende der Befehlskette ansetzen. So sind es hier gerade die kleinen Schicksale, die den Zuschauer schlucken lassen, beispielsweise wenn sich vor Robertos Augen eine Familie dazu entscheidet, ihr gesamtes Anbauland für einen kleinen Geldbetrag der Giftmüllentsorgung der Camorra zur Verfügung zu stellen und dabei die landwirtschaftlichen Möglichkeiten des Landes und somit die eigentliche Einkommensgrundlage der Familie für immer zerstört. Die erbarmungslosen letzten 20 Minuten, die für die meisten Protagonisten nur Tod, Resignation und Ausweglosigkeit bereithalten, wirken dann sogar wie ein einziger, langer Schlag in die Magengrube.
Die größte Schwäche von „Gomorrha“ ist dennoch erzählerischer Natur. Anders als bei anderen Episodenfilmen laufen die einzelnen, abwechselnd erzählten Geschichten nämlich gegen Ende nicht zusammen, sondern bleiben für sich, wodurch leider kein ganz homogenes Gesamtbild entsteht. Auch werden viele Details nur angedeutet oder offen gelassen: Wer hier genau gegen wen kämpft, lässt sich nur erahnen, und auch viele andere Szenen, wie beispielsweise die Versteigerung eines Auftrags in der Textilfabrik, sind zumindest ohne gewisse Vorkenntnisse nur schwierig zu durchschauen. Das hat allerdings durchaus auch positive Seiten: Da der Zuschauer ebenso wie die Protagonisten oft im Dunkeln tappt, erhöht sich die Spannung nur noch weiter.
Inszenatorisch ist „Gomorrha“ hingegen über jeden Zweifel erhaben. Garrone erzählt den unter einem Decknamen an Originalschauplätzen gedrehten Film in unterkühlten und trostlosen Bildern, die gemeinsam mit den tristen Betonburgen, öden Feldern und veralteten Fabrikhallen, in denen ein Großteil der Handlung spielt, eine sehr ungemütliche Atmosphäre erzeugen. Im Kontrast zu den Bildern stehen die bewusst disharmonisch eingesetzten Italo-Pop-Songs, die die gezeigte Brutalität noch banaler und damit schockierender erscheinen lassen, was vor allem der starken Eröffnungssequenz zugute kommt. Auch die Schauspieler, die zum Großteil vor Ort gecastet wurden und dementsprechend in „Gomorrha“ ihre erste größere Rolle spielen, können allesamt überzeugen und geben eine sehr authentische Vorstellung ab. Wer die Möglichkeit hat, sollte daher auch unbedingt die italienische Originalfassung mit Untertiteln vorziehen.
Als im Juni 2008 im sogenannten Spartacus-Prozess, der bereits über zehn Jahre andauerte, insgesamt 16 hochrangige Camorra-Bosse zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt wurden, fand dies auch in der internationalen Presse große Beachtung. Saviano sieht darin die Bestätigung, dass er mit seinem Roman bereits etwas erreicht hat, nämlich Aufmerksamkeit für untragbare Zustände zu schaffen, die im zivilisierten Westeuropa wohl keiner vermuten würde. Auch die Verfilmung, die in Cannes mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde, hat gute Karten, dazu weiter beizutragen. Matteo Garrone ist ein hochinteressanter, fast schon dokumentarisch anmutender Blick auf die Camorra gelungen, der trotz kleiner erzählerischer Schwächen kaum einen unberührt lassen wird. Nicht gerade leicht zu verdauen, aber auf jeden Fall sehr sehenswert.