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    Liebe und andere Verbrechen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Liebe und andere Verbrechen
    Von Nicole Kühn

    Der Kapitalismus und seine Folgen erhalten Einzug in den wilden Osten. In seinem lakonischen Drama „Liebe und andere Verbrechen“ zeigt der junge serbische Regisseur Stefan Arsenijevic, wie Menschen reagieren, wenn ihre vertrauten Muster und Verhaltenskodices kollabieren. Genau beobachtend genügen ihm wenige Gesten, um mit einer sehr klaren und zurückgenommenen Bildgestaltung die Figuren so tiefgründig zu zeichnen, dass jedes moralische Urteil schwer fällt. Keiner bleibt ohne Schuld, für die er sich immer wieder bewusst entscheidet – jedoch versteht es Arsenijevic, für jeden auch Verständnis zu wecken, ohne dabei den schalen Geschmack falschen Mitleids herauf zu beschwören.

    Milutin (Fedja Sojanovic) ist eine jener Eminenzen, die tadellos in dem Anzug aussehen, den sie sich nur aufgrund ihrer skrupellosen kriminellen Machenschaften überhaupt leisten können. Scheinbar frei von jedwedem Gewissen betreibt er seine Schutzgeldgeschäfte auf dem Rücken mittelloser Kioskbetreiber im tristen Hochhausdschungel Neu-Belgrads. Doch Milutins wohlverdienter Ruhestand wird empfindlich gestört: Nicht nur drängt sich mal wieder ein Konkurrent in sein Gebiet, auch die bevorstehende Eröffnung eines Supermarktes droht ihm seine Geschäftsgrundlage zu entziehen. Mitten im schärfer werdenden Kampf ums Geld weigert sich Milutins pubertierende Tochter Ivana (Hanna Schwamborn) zusehends, mit ihrem Vater auch nur ein Wort zu sprechen. Lieber steigt sie aufs Dach und singt in Schwindel erregender Höhe melancholische Lieder. Während auf seinen Handlanger Stanislaw (Vuk Kostic) weiterhin Verlass ist, scheint sich neben seiner Tochter auch seine Geliebte Anica (Anica Dobra) immer mehr zu verschließen…

    Unaufgeregt und konsequent zeigt der 1977 in Belgrad geborene Arsenijevíc, wie sich die Menschen den Umständen anpassen. Die mafiösen Machenschaften werden nicht gutgeheißen, sondern lediglich genauso ungerührt als Tatsache geschildert, mit der sich die Menschen abgefunden haben, wie die Sehnsucht nach einem besseren Leben, die auch Lug und Trug ohne weiteres rechtfertigt. Dass die Menschen dabei ebenso erstarrt, farb- und bewegungslos wie die grauen Betonschluchten der sozialistischen Hochhaussiedlungen erscheinen, erklärt sich für den Regisseur und Co-Autor durch den schwierigen Übergang von einem schlechten System in ein anderes, ebenso schlechtes.

    Markant ist auch das Fehlen jeglicher Orientierungspunkte in der neuen Gesellschaft, auf das alle Charaktere mit Rückzug reagieren: hinter eine sich an geistige Verwirrung annähernde Skurrilität wie Ivana, hinter bedrückendes Schweigen wie Milutin, hinter wortlose Konsequenz wie Stanislaw, oder hinter undurchsichtige Unnahbarkeit wie Anica. Die Figuren gehorchen in ihrem Handeln scheinbar ungeschriebenen, unabänderlichen Gesetzen. Keine realistische Perspektive, an die sie glauben könnten, treibt sie an, sondern die resignierende Einsicht, dass eine Entscheidung für ein anderes Leben wohl kaum etwas verbessern würde.

    Es ist gerade die formelle Nüchternheit von Arsenijevícs erstem abendfüllendem Spielfilm, die ein nachhaltiges Beklommenheitsgefühl erzeugt. Weder Ivanas Tänzeln um einen möglichen Selbstmord noch die Unbarmherzigkeit der Geschäftemacher werden dramaturgisch aufgeladen. Umso stärker setzt sich das Gefühl durch, dass sich all diese existenziellen Ereignisse zwingend in einem großen Knall entladen müssten. Diese Erleichterung enthält uns „Liebe und andere Verbrechen“ jedoch vor. Mit seiner Bildgestaltung unterstreicht Kameramann Simon Tansek dieses Verharren im Unbestimmten: Die ohnehin düsteren Schluchten, die sich zwischen den Hochhäusern auftun, entwickeln im immerzu fahlen Licht kaum Konturen, während die Kamera sich in gemessenem Tempo durch sie hindurch bewegt und dabei den Figuren bei ihren Wegen durch ein sonderbares Nirgendwo folgt. Die langen Einstellungen lassen sich Zeit, kleinste Regungen in den Gesichtern zu erkunden, in denen man erst bei genauem Hinsehen hinter der leeren Maske schließlich auch Verletzlichkeit entdeckt.

    Die emotionale Reduktion der Figuren wird nur von wenigen Gefühlsausbrüchen gestört, was viel Raum für kleine Gesten und das exakte Minenspiel der Darsteller vorbehält. Anica Dobras ausdrucksstarkes Gesicht hält jedem noch so intensiven Blick der Kamera mühelos Stand. In der 16-jährigen Hanna Schwamborn hat sie eine viel versprechende Kollegin an ihrer Seite, deren junges Gesicht bereits eine tiefe Betrübnis in sich zu tragen scheint. Gefangen von Ivanas zwischen Abgeklärtheit und Warmherzigkeit schwankenden, wortkargen Aura, offenbart sogar der sonst so abgebrühte Stanislaw plötzlich weiche Seiten. Zwischen den beiden entwickeln sich zarte Gefühle der Verbundenheit, die jedoch schon bald von der Realität auf eine Zerreißprobe gestellt werden.

    Fazit: Ohne jeden Hang zur Gefühlsduselei gibt „Liebe und andere Verbrechen“ ein Lebensgefühl wieder, das weder pessimistisch noch optimistisch ist, sondern von der lakonischen Haltung gegenüber den Fährnissen, die das Weltgeschehen für den Einzelnen mit sich bringt, geprägt wird. Das Verharren in einem Vakuum zwischen Aufbegehren und Akzeptanz trifft die Befindlichkeiten im zusammenwachsenden Europa auf den Kopf. Damit weist der Film weit über seinen osteuropäischen Schauplatz hinaus, in dem sich viele Entwicklungen, die auch an anderen Orten stattfinden, einfach nur noch deutlicher herauskristallisieren.

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