Wer im Kino vom Leben einer berühmten Person erzählen wollte, folgte lange Zeit fast ausschließlich einem einfachen Muster: Die im Werdegang des Porträtierten ohnehin angelegte Dramaturgie wurde noch verstärkt, indem die wesentlichen Stationen und Wendepunkte einer bestimmten Phase oder auch des gesamten Lebens systematisch abgeklappert und mit einer Klammer versehen wurden. Auch heute entstehen auf diesem klassischen Weg noch außergewöhnliche Biopics wie „Walk the Line" über Johnny Cash oder „Ray" über Ray Charles. Aber gerade bei filmischen Künstlerporträts gehen immer mehr Regisseure andere Wege und suchen den Zugang zu ihrer Hauptfigur und deren Schaffen auf einer Meta-Ebene: „I'm Not There" von Todd Haynes beschreibt nur teilweise Lebensabschnitte von Bob Dylan und genau in jener Episode, die eng an den äußeren Fakten orientiert ist, wird der Sänger von einer Frau (Cate Blanchett) gespielt. In „Howl" wiederum erschließt sich die Person Allen Ginsberg durch einen wilden Parforceritt durch dessen berühmtestes Gedicht. Mit seinem Debütfilm „Gainsbourg" setzt sich nun der französische Comic-Zeichner Joann Sfar bewusst zwischen die Stühle...Vordergründig folgt er dem klassischen Schema, dieses durchbricht er jedoch auch immer wieder, indem er Platz für rein Fiktionales schafft, seine Hauptfigur gleich doppelt präsentiert und Zeiträume extrem verdichtet. Diese höchst interessante Strategie geht zwar nicht durchweg auf, aber der entstandene unterhaltsam-erotische Märchen-Reigen verschafft auch dem nicht vorbelasteten und dem jüngeren Publikum Zugang zu dem großartigen Chansonnier Serge Gainsbourg.
Der kleine Lucien Ginsburg (großartig: Kacey Mottet Klein) besucht im von den Nazis besetzten Frankreich schon mit zwölf Jahren die angesehene Kunstschule Académie Montmartre. Er träumt davon, ein Maler zu werden, doch sein Vater Joseph (Razvan Vasilescu), ein erfolgloser Pianist, zwingt ihn, das Klavierspiel zu erlernen. Der kleine jüdische Junge muss vor den Nazis aus Paris fliehen und sich später sogar für mehrere Tage im Wald verstecken. Auch der erwachsene Serge (nun: Eric Elmosnino) träumt immer noch von einer Karriere als Maler, mit Elisabeth (Deborah Grall) heiratet er eine Kollegin. Klavier spielt er nur nachts in Bars, um das Geld für neue Leinwände zu verdienen. Eines Tages muss er dann aber erkennen, dass sein musikalisches Talent überwiegt. Er verdingt sich als Chansonschreiber, verweigert sich später auch nicht mehr der Popmusik und schreibt Lieder für Jungstar France Gall (Sara Forestier). Er hat nun Erfolg und bildet mit dem Sexsymbol Brigitte Bardot (Laetitia Casta) nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Bett ein famoses Duett. Später lernt er die Britin Jane Birkin (Lucy Gordon) kennen, die ihn erst gar nicht, dann immer mehr fasziniert. Mit ihr erreicht er künstlerisch und privat neue Höhen, längst ist er einer der größten Stars seines Landes. Doch auch Abstürze folgen, die Trennung von Jane, ein Herzinfarkt, dann noch einmal ein Reggae-Album als künstlerisches Ausrufezeichen, das ihm aber den Zorn der französischen Rechten einbringt.
Wer Serge Gainsbourg in den 80er Jahren für sich entdeckte, kennt vor allem Gainsbarre, die von ihm selbst erschaffene Kunstfigur, die immer mehr von ihrem Schöpfer Besitz ergriff. Gainsbarre war nie ohne eine qualmende Zigarette zu sehen, dauernd sturzbetrunken und beschimpfte seine Umwelt. Man erinnert sich an TV-Auftritte, in denen er öffentlich Geld verbrannte oder die Sängerin Whitney Houston mit sexuell anzüglichen Kommentaren beleidigte, was bei YouTube trotz der vielen Chart-Hits, die Gainsbourg hatte, immer noch einer der Top-Treffer bei der Suche nach dem legendären Künstler ist. Joann Sfar führt diese zweite Figur, dieses andere Gesicht des Künstlers von Anfang an in seinen Film ein. Der Titelheld wird immer wieder von „der Fresse" begleitet, die im Laufe des Films von einem großen runden Kopf zu einer Gainsbourg-Karikatur mit überdimensionaler Nase, großen Segelohren und überlangen Fingern mutiert. Diese von dem ungemein wandlungsfähigen Amerikaner Doug Jones, Hollywoods Experten für „Spezialeffekt-Kreaturen" wie Abe Sapiens (in den „Hellboy"-Filmen) oder den Silver Surfer (im „The Fantastic Four"-Sequel), verkörperte Figur dient dem eigentlichen Gainsbourg als Lebensberater, der die Richtung vorgibt. So steckt die „Fresse" das komplette Atelier in Brand, um Alter Ego Gainsbourg weg von der Malerei und hin zur Musik zu bringen.
Die Dopplung der Hauptfigur wird geschickt zur erzählerischen Verdichtung und für ein Spiel auf mehreren Ebenen genutzt. Da betreten die „Fresse" und Gainsbourg gemeinsam den Raum und während der bekannte Songschreiber versucht, dem sexuelle Enthaltsamkeit predigenden Jungstar France Gall ein anzügliches Lied über Lollipops aufzuschwatzen, verhandelt sein zweites Ich mit dem Vater und lenkt diesen ab. Am Ende des nur wenige Minuten dauernden „Doppeltreffens" und Kennenlernens steht bereits die Uraufführung des fertig komponierten Welthits. Die Zeit fließt in „Gainsbourg" schneller: In einer einzigen Szene vergehen hier Tage oder Wochen, manchmal auch Monate oder sogar Jahre.
Nachdem er mit dem Versuch, Charlotte Gainsbourg („Antichrist") für die Rolle ihres Vaters zu gewinnen, keinen Erfolg hatte, entschied sich Joann Sfar dafür, den Part an den relativ unbekannten Éric Elmosnino („Actrices - oder der Traum aus der Nacht davor") zu vergeben. Der im Kino bislang nur in Nebenrollen aufgetretene, mehrfach preisgekrönte Theaterschauspieler sieht aus wie Gainsbourg und singt auch noch wie das Original – insofern kommt er einer Idealbesetzung ziemlich nahe. Auch die Rollen der wichtigen Frauen im Leben des Stars, um die herum die Story strukturiert ist, sind exzellent besetzt. Supermodel Laetitia Casta („Asterix & Obelix gegen Caesar") verkörpert Sexsymbol Brigitte Bardot und spielt wie das Vorbild lustvoll mit der Kamera. Diese fährt in Slow-Motion über die Kurven der Casta, die sich lasziv auf dem Bett räkelt oder splitternackt nur mit einem weißen Laken durch den Raum tanzt.
Während Laetitia Casta vor allem die erotische Ausstrahlung der Bardot lebendig werden lässt, gelingt Lucy Gordon („Spider-Man 3") als Jane Birkin ein regelrechter schauspielerischer Parforceritt. Die großartige britische Mimin, die sich kurz nach Ende der Dreharbeiten das Leben nahm, ist eine Jane Birkin, die mal vor Erotik sprüht, mal spröde, mal leidenschaftlich ist, die um ihren Geliebten kämpft und trauert und am Ende von ihm zerstört wird. Neben zahlreichen weiteren Schönheiten wie Anna Mouglalis („Coco Chanel & Igor Stravinsky"), Mylène Jampanoï („Martyrs") oder Sara Forestier („Vorsicht Sehnsucht") geben sich auch Gaststars wie Yolande Moreau („Louise Hires A Contract Killer") und der kürzlich verstorbene Regie-Altmeister Claude Chabrol für kurze Cameos die Klinke in die Hand.
Fazit: In einem Interview zu „Gainsbourg" verwies Regisseur Joann Sfar darauf, dass er nicht im Privatleben des Stars herumschnüffeln wollte und ihm die Wahrheit gar nicht gleichgültiger sein könnte. Er wollte einen Kultfilm machen und keinen journalistischen Bericht. Dieses Bemühen um das Außergewöhnliche ist dem Film jederzeit anzumerken und manchmal schießt Sfar dabei über das Ziel hinaus. Ein Kultfilm ist „Gainsbourg" nicht geworden, aber die entstehen auch nicht mit Ansage. So ist das Werk eine unterhaltsame Hommage an einen unvergleichlichen Künstler, an der sowohl alte Fans als auch Gainsbourg-Neulinge ihre Freude haben können.