Jean-Pierre Jeunet („Die fabelhafte Welt der Amelie", „Mathilde - Eine große Liebe") war frustriert. Mehr als zwei Jahre hatte er die Adaption von Yann Martels Erfolgsroman „Schiffbruch mit Tiger" vorbereitet. Dann versagten ihm seine US-Produzenten das geforderte Budget und der französische Kultregisseur – seit „Alien - Die Wiedergeburt" ohnehin ein gebranntes Kind leidvoller Erfahrungen mit der Hollywoodmaschinerie – zog sich entnervt aus dem Projekt zurück. Nicht zuletzt, um endlich wieder einen Film realisieren zu können, entwickelte er mit seinem langjährigen Co-Autor Guillaume Laurant „Micmacs – Uns gehört Paris!", eine charmante Komödie über den irrwitzigen Kampf einer Außenseitergruppe gegen die Waffenindustrie mit Starkomiker Dany Boon („Willkommen bei den Sch'tis") in der Hauptrolle. Trotzdem besitzt Jeunets neuester Streich mitnichten den Charakter eines Gelegenheitswerkes. Einzig künstlerische Stagnation, wenngleich aber auf sehr hohem Niveau, kann hier zum Vorwurf gemünzt werden. Wer das sepiagetränkte, nostalgisch-versponnene Universum Jeunets gerne aufsucht, dürfte auch hier nicht enttäuscht werden. In gewohnter Manier lässt er seinen scheinbar unerschöpflichen Einfallsreichtum auf sein Publikum niederprasseln, verliert dabei jedoch nie seine sympathisch-skurrilen Figuren und die humane Botschaft aus den Augen. Cineasten können sich zudem an unzähligen Verweisen und einer augenzwinkernden Betonung der filmeigenen Artifizialität erfreuen.
Bazil (Dany Boon) scheint das Unglück förmlich anzuziehen. Einst brachte eine Landmine seinen Vater in Marokko ums Leben - die Mutter (Lara Guirao) blieb paralysiert und er in einem Waisenhaus zurück. Nun arbeitet der Filmfan in einer winzigen Pariser Videothek, sich vor weiteren Schicksalsschlägen sicher wähnend. Eines Abends jedoch trifft Bazil auf der Straße vor seinem Arbeitsplatz eine Kugel in den Kopf. Die Ärzte lassen eine Münze entscheiden, ob sie das sehr tief sitzende Projektil entfernen sollen und so verbleibt es, ihn ständig gefährdend, in seinem Körper. Fortan lebt der notdürftig Genesene auf der Straße, bis ihn der kauzige Placard (Jean-Pierre Marielle) aufliest. Zusammen mit anderen skurrilen Gestalten, darunter die Schlangenfrau Mademoiselle Kautschuk (Julie Ferrier) und der Kanonen-Artist Fracasse (Dominique Pinon), haust und arbeitet dieser auf einem abgelegenen Schrottplatz. Schnell findet Bazil eine Ersatzfamilie in der schrägen Clique. Zufällig findet er kurz darauf heraus, wer ihm so übel mitgespielt hat – zwei sinistre, rivalisierende Waffenfirmen - und beginnt, seine Rache vorzubereiten...
Wie seinem Oeuvre unschwer anzumerken, interessiert sich Jeunet, der sich selbst als „phantasiesüchtig" bezeichnet, nicht im Geringsten für realistische Darstellungen. Stattdessen zelebriert er die Freiheit, seine gänzlich eigenen Welten zu erschaffen und mit quirligen Figuren zu bevölkern. Dies hatte zur Folge, dass auch er inzwischen mit einem einem eigenen Adjektiv, dem leicht zungenbrecherischen „jeunetesk", geadelt wurde. Er liebe es, wenn er einen anderen Regisseur aufgrund seines visuellen Stils nach zehn Sekunden erkennen könne, bekundet er. In seinem Falle könnte es sogar noch schneller gehen. Warme bräunliche Farben, Weitwinkelperspektiven, eine losgelöste Kamera, der Retro-Look der Ausstattung, skurrile Digressionen – voilà, das kann nur der Gedankenwelt Jeunets entstammen. In dieser Hinsicht zeitigt „Micmacs" keinerlei Überraschungen, bietet stilistisch eine harmonische Melange aus dem dystopischen Frühwerk, vor allem „Delicatessen", und dem märchenhaften Anstrich einer „Amélie"; doch das Gesamtergebnis ist so übervoll an kreativen Einfällen und Details, dass sich zu keinem Zeitpunkt Langeweile einstellt. Für die Rasanz des minutiös ausgetüftelten Plans sorgen zudem Plotelemente des Spionagethrillers und – man achte auf die nützlichen individuellen Fähigkeiten der Crewmitglieder – des Superhelden-Comics.
Als äußerst glückliche Darstellerwahl erweist sich Danny Boon; er erinnert in seiner Lakonie an legendäre Komiker wie Jacques Tati oder Buster Keaton. Unvermeidlich ist natürlich das Auftreten von Jeunets Stammschauspieler Dominique Pinon, der wie gewohnt einer eher schematischen Figur Kontur verleiht. Im Grunde besteht das gesamte Figurenarsenal aus Karikaturen, doch das harmoniert mit dem Gesamtkonzept, einer Art Live-Action Cartoon. Zudem werden die Figuren, selbst die von André Dussollier und Nicolas Marié genüsslich dargebotenen Antagonisten, nie bloßgestellt, sondern bewahren stets ihre menschliche Seite, so kindisch sie auch sein mögen. Überdies verbindet Jeunet die Komik gelungen mit der moralischen Botschaft des Films. Die Anprangerung der Geschäftspraktiken heuchlerischer Rüstungsfirmen verfehlt ihr Ziel nicht, gerade aufgrund der süßen Verpackung der bitteren Medizin. Pamphlethaftigkeit wird so geschickt vermieden.
Gelungen ist Jeunet auch die clever in die Handlung eingeflochtene Metabetrachtung samt damit einhergehender Ironisierung: Von einem Orchester, das an einer dramatischen Stelle hinter dem Protagonisten erscheint und den Soundtrack zu spielen vorgibt, um sogleich wieder zu verschwinden, bis zu Plakaten am Straßenrand, die das sich gerade ereignende Geschehen abbilden - von unzähligen Referenzen an die Filmgeschichte ergänzt - reicht das Spektrum der heiteren Autoreflexivität. Dies distanziert zwar phasenweise, lenkt aber keineswegs gänzlich ab, da es wunderbar zur Verspieltheit des Films passt.
Mit „Micmacs" bietet Jean-Pierre Jeunet einen weiteren erwartungsgemäß höchst eigenwilligen Trip in seine schräge Parallelwelt an. Dank eines spielfreudigen Ensembles und den ernsten Untertönen verkommt das Spektakel nie zur selbstzweckhaften Demonstration der Phantasie seines Schöpfers. Warmherzig und trotz tragischer Grundkonstellation voll ansteckender guter Laune – ein idealer „alternativer" Sommerfilm!