Nachdem Marvel einiges an Hohn einstecken musste, weil sich die finalen Schlachten aus „Thor 2 – The Dark Kingdom“, „Captain America 2: The Return Of The First Avenger“ und „Guardians Of The Galaxy“ so sehr ähneln, haben sich die Verantwortlichen für „The First Avenger: Civil War“ etwas Besonderes einfallen lassen: Das eigentliche „Finale“ am Leipziger Flughafen passiert schon mitten im Film, während sich Captain America und Iron Man am Ende eine fast schon intime Prügelei in der Abgeschiedenheit Sibiriens liefern. Man erkennt schon: Wenn das mit dem Marvel Cinematic Universe (MCU) jetzt wirklich ewig weitergeht, dann werden die Actionsequenzen eines der ersten Elemente sein, die sich ständig wiederholen. Gerade deshalb ist es eine der Hauptaufgaben der Marvel-Helden aus der zweiten Reihe, in ihren Solo-Filmen für visuelle Abwechslung im MCU zu sorgen. Und nachdem das schon in „Ant-Man“ mit seinem Kinderzimmer-Finale hervorragend geklappt hat, wird nun auch Regisseur Scott Derrickson mit „Doctor Strange“ dieser Herausforderung voll gerecht.
Man weiß nicht genau, ob Doctor Stephen Strange (Benedict Cumberbatch) nur deshalb zu einem genialen Neurochirurgen wurde, weil er so extrem von sich selbst überzeugt ist, oder ob er im Gegenteil nur so unglaublich arrogant ist, weil er im Operationsaal immer wieder wahre Wunder vollbringt. Auf jeden Fall bricht seine komplette Welt für ihn zusammen, als ihm bei einem selbstverschuldeten Autounfall die Finger zerschmettert werden und er deshalb seinem Job nicht länger nachgehen kann. Gerade als keiner seiner Kollegen mehr bereit ist, an seinen zerstörten Händen weitere experimentelle chirurgische Methoden auszuprobieren, erfährt Strange von Jonathan Pangborn (Benjamin Bratt), der trotz einer inoperablen Nervenverletzung inzwischen wieder mit seinen Kumpels Basketball spielt, statt im Rollstuhl zu sitzen. Pangborn berichtet Strange wiederum von The Ancient One (Tilda Swinton), einer mächtigen Magierin, die in Tibet ein Kloster leitet. Sofort bricht Strange in den Himalaya auf, dort muss er jedoch zuerst einmal lernen, sein riesiges Ego hintenanzustellen, bevor er sich mit mystischen Zaubersprüchen und alternativen Dimensionen beschäftigen kann…
Nach dem Weltraum (mit „Guardians Of The Galaxy“) und dem Mikroskopischen (mit „Ant-Man“) erschließt sich das MCU mit „Doctor Strange“ jetzt auch noch die Welt der Magie (und damit auch das dazugehörige Konzept der Multidimensionalität). Bei der visuellen Umsetzung orientiert sich Scott Derrickson („Der Tag, an dem die Erde stillstand“, „Sinister“) zwar offensichtlich an Szenen aus Christopher Nolans Traum-Mindfuck „Inception“ - speziell an der Faltung von Paris und dem rotierenden Hotelflur -, entwickelt die Konzepte aber konsequent weiter und kreiert so wahrhaft atemberaubende Actionszenen, die völlig aus dem üblichen Marvel-Rahmen fallen. Zwei Sequenzen ragen dabei besonders heraus: Einmal liefern sich die Astralkörper zweier bewusstloser Magier eine Rangelei in einem New Yorker Krankenhaus und im wahrhaft originellen Finale duellieren sich die Parteien, während um sie herum die Zerstörung Hongkongs rückwärts abläuft und damit rückgängig gemacht wird (statt einer weiteren Destruktionsorgie sehen wir also gleichsam das genaue Gegenteil, nämlich den „Wiederaufbau“ einer demolierten Metropole).
Brillant, überheblich, statusbewusst – Doctor Strange ist eine Mischung aus Dr. House und Tony Stark. Der staubtrockene, aus Arroganz und Herablassung entspringende Humor der Figur ist also nicht gerade neu, wird von Benedict Cumberbatch („Star Trek Into Darkness“) aber mit einer solchen Selbstverständlichkeit vorgetragen, dass trotzdem so gut wie jede Pointe ihr Ziel trifft. Wirklich überraschend ist das natürlich nicht, schließlich hat Cumberbatch in den vergangenen Jahren als titelgebender Meisterdetektiv in „Sherlock“ bereits eine der arrogantesten Figuren der TV-Geschichte absolut brillant verkörpert. Wenn jemand mit solch einem gewaltigen Ego in einem Film seinen Meister finden soll, muss man schon gewaltige Geschütze auffahren – und genau das hat Marvel mit der Besetzung von Oscarpreisträgerin Tilda Swinton („Michael Clayton“) als glatzköpfige The Ancient One auch getan: Wie sie Strange allein mit ihrer bloßen Ausstrahlung oder winzigen Gesten in seine Schranken weist, ist ganz große Schauspielkunst (und macht die Kontroverse um das Whitewashing der Rolle fast vergessen).
Neben Cumberbatch und Swinton wird die Luft dann aber auch schon schnell sehr dünn: Chiwetel Ejiofor („12 Years A Slave“) als Magier Mordo und Rachel McAdams („Sherlock Holmes“) als Stranges Ex-Freundin Christine Palmer bleiben vollkommen blass und man kann nur hoffen, dass ihre Figuren in der Fortsetzung mehr zu tun bekommen (zumindest deutet die Post-Credit-Szene ganz stark in diese Richtung). Zwischen Strange und dem abtrünnigen Kaecilius gibt es zwar einige nette Wortspiele, weil der humorlose Magiemeister die ironischen Bemerkungen seines Gegenübers immer falsch versteht (ähnlich wie Drax in „Guardians Of The Galaxy“), aber davon abgesehen reiht sich nun auch Mads Mikkelsen („Die Jagd“) in die lange Liste schön geschminkter, aber vergessenswerter Marvel-Bösewichte ein. Tom Hiddleston braucht sich offenbar wirklich keine Sorgen zu machen, dass an seinen Loki noch einmal irgendein MCU-Bad-Guy heranreicht.
Sehr viel besser funktionieren die beiden Sidekicks des Films: Benedict Wong („Sunshine“) liefert als pflichtbewusster Bibliothekar Wong einen perfekten (weil absolut ahnungslosen) Sparringspartner für Stranges Popkultur-Pointen. Und als heimlicher Star des Films entpuppt sich Stranges eigenwilliger Umhang, der selten das tut, was sein Träger von ihm verlangt, und so an die lebendigen Gegenstände aus frühen Disney-Cartoons mit Mickey, Donald und Co. erinnert. Aber hier und da verursacht der Humor auch Probleme: So gibt es zum Beispiel eine wirklich sehr schöne kurze Sequenz, in der der Kragen des Umhangs vor dem Spiegel lustige Sperenzchen treibt - aber weil die Szene genau zwischen dem Tod einer wichtigen Figur und dem drohenden Weltuntergang platziert ist, wirkt sie trotzdem fehl am Platz und nimmt den dramatischeren Momenten ein wenig von ihrer Wirkung. Manches Mal wirkt „Doctor Strange“ so, als sollte auf Biegen und Brechen das erprobte augenzwinkernde Marvel-Konzept durchgezogen werden, obwohl ein mit mehr Konsequenz durchgehaltener düstererer Ton besser gepasst hätte.
Fazit: Benedict Cumberbatch, Tilda Swinton, der Humor und die visuelle Gestaltung der Actionszenen sind top. Aber in Sachen Story, Bösewicht und Nebenfiguren ist noch eine Menge Luft nach oben.