Es ist mittlerweile ja fast schon eine Bierdeckelweisheit, dass der deutsche Film kräftig im Auftrieb ist. Ein Umstand, der in erster Linie von unseren cinephilen Nachbarn, den Franzosen, angemessen gewürdigt wird. Dass aber nicht nur deutsche Spiel-, sondern auch deutsche Dokumentarfilme immer besser werden, ist noch nicht ganz so verbreitet. Ablesen kann man diese Entwicklung zum Beispiel am großen Kino- und Festivalerfolg vieler Dokumentarfilme, die hierzulande gedreht werden. Wer hat nicht das als Dorfschild designte Kinoplakat von Full Metal Village irgendwo an einer Litfasssäule hängen sehen? Oder vom Geheimtipp der diesjährigen Berlinale, richtig: Prinzessinnenbad, gehört? Viele der etablierten Filmkritiker sehen Volker Koepp, einen der renommiertesten Dokumentarfilmer überhaupt, als eine wesentliche Triebfeder für die insgesamt hohe Qualität deutscher Dokus (Koepp will zwar leider niemand im Kino sehen, aber dafür schmilzt die Kritik dahin – und Preise gewinnt er auch, zuletzt den Großen Preis von Nyon für Söhne). Alles in allem könnte man sagen, dass es durch und durch misslungene Filme dokumentarischer Art eigentlich nur noch im Fernsehprogramm zu sehen gibt. Nämlich die Art von Filmen, in denen drittklassige Schauspieler historische Kongresse und ähnliches nachäffen und in denen Geigenmusik verwendet wird, wenn ein seniler Zeitzeuge vor schwarzem Hintergrund gesteht, dass die Engländer Dresden zerbombt haben (man darf es auch mal wiederholen: Guido Knopp macht definitiv keine ambitionierten oder gar hochwertigen Dokumentationen).
Soviel dazu. Leopold Grüns Dokumentarfilm „Der rote Elvis“ porträtiert den Sänger Dean Reed (nicht zu verwechseln mit Lou Reed), dessen Vita durchaus für eine gute Geschichte taugt und für heutige Befindlichkeiten, wie etwa die „soziale Frage“ oder die Schere zwischen armen und reichen Ländern, reichlich Anknüpfungspunkte bietet. Dean Reed wurde 1938 in Denver geboren. Er studierte zunächst Meteorologie und wurde dann durch einen Zufall entdeckt: Als Hobbymusiker spielte Reed einem Tramper ein kleines Ständchen, der so begeistert war, dass er ein Vorspiel für seine Mitfahrgelegenheit organisierte, bei dem Reed überzeugen konnte. Seine ersten Singles floppten in den USA, wurden in Südamerika aber euphorisch aufgenommen. So kam es, dass Reed eine lange Tour durch Südamerika machte, die ihm die Armut der dortigen Länder nachdrücklich vergegenwärtigte. Ähnlich wie Che Guevera (ein etwas schiefer, trotzdem sinnvoller Vergleich) zog er daraus die Konsequenz, sich für soziale Gerechtigkeit einzusetzen, aktiv als Künstler für den „Weltfrieden“ zu kämpfen. In der Zeit des Kalten Krieges outete er sich als Marxist und zog nach Ostberlin, wo die politischen Machthaber ihn prompt als Aushängeschild nutzbar machten (wovon beide Seiten profitieren konnten). Reed verbrannte ganz gerne mal die amerikanische Flagge in der Öffentlichkeit, erzählte den FDJlern von einer besseren Welt und spielte Rollen in anti-kapitalistischen Filmen (etwa in einem Western, in dem die Kavallerie ein Indianerdorf niederbrennt und die Figur Reeds sich auf die Seite der Unterdrückten schlägt: Er zerbricht einen Stock, an dem die US-Flagge hängt, überm Knie). Phasenweise liebäugelte er sogar damit, seine Gitarre mit einer Maschinenpistole zu tauschen, um die Palästinenser aktiv bei ihrem Friedenskampf zu unterstützen. Ein sehr eindrückliches Bild aus „Der rote Elvis“ zeigt Reed mit einer Gitarre in der linken und einem MG in der rechten Hand.
Das ist die eine Seite von Dean Reed; die des idealistischen Freiheitskämpfers, der für die DDR wirbt, ohne sich wirklich benutzen zu lassen. Die andere Seite ist die des narzisstischen, erfolgssüchtigen Showmasters. Ob der Sänger sich für die unterdrückten Sta Südamerikas eingesetzt hätte, wenn die dortige Bevölkerung ihn nicht verehrt hätte, ist recht fraglich. Und dass er lange Zeit die DDR unterstützt hat, obwohl er immer mehr bemerkte, dass sein religiöser Freiheitsbegriff dort nicht eins zu eins verwirklicht wird, ist ein weiteres Indiz dafür, dass er vielleicht doch nicht von Grund auf nobel und uneigennützig war. Und auch seine Frauengeschichten – zwei Liebschaften kommen in „Der rote Elvis“ zu Wort, von anderen wird berichtet – passen nicht immer in die Kategorie „humanistischer Idealist“. Reed hat etwa eine junge Verehrerin, die ihm an ein Filmset nachgereist ist, eine Woche im Hotelzimmer behalten, sie aber dann harsch abgewiesen, weil die Verliebte ihm lästig wurde. Oder seine damalige Frau samt Kind auf die Straße gesetzt.
Das hervorragende an Leopold Grüns Dokumentarfilm ist, dass er dem Zuschauer die ambivalente Persönlichkeit Dean Reeds objektiv und anschaulich präsentiert. Der Zuschauer soll selbst entscheiden, wie der marxistische (?) Charismat zu bewerten ist, der auch mal in einer Luxuslimousine vorfährt. Anhand von kompetenten, glaubwürdigen Wegbegleitern (wie Armin Müller-Stahl, Maren Zeidler oder Günter Reisch), Aufnahmen von Auftritten und Filmszenen schafft Grün ein stimmiges, dichtes Porträt. Als Kommentar werden immer wieder Songs von Reed eingespielt, was „Der rote Elvis“ auf eine angenehme Weise kurzweilig werden lässt. Und seinen eigenen Blickwinkel macht Grün sehr geschickt über die intelligente Montage deutlich (und predigt ihn eben nicht in einem belehrenden Off-Kommentar runter).
Gegen Ende seines Lebens sank Reeds Stern immer tiefer: Er wurde von der Zeit überholt und vor allem die jungen Leute in der DDR hatten seine politischen Lieder satt, weil der darin glorifizierte, idealistische Sozialismus in der DDR ganz augenscheinlich demontiert wurde. Die daraus folgende Verzweiflung Reeds schlug sich in einer Kritik am „besseren Deutschland“ nieder, die soweit ging, dass Reed seine Ausreise nach Amerika plante. In einem von der Stasi dokumentierten Wutausbruch bei einer Verkehrskontrolle wird Reeds Groll ersichtlich. Im Bericht heißt es, Reed habe die DDR mit einem „faschistischen Staat“ verglichen und behauptet, dass er und die anderen 16 Millionen Bürger es bis zum Hals satt hätten. „Diese Aussage bekräftigte er mit einer Handbewegung“ lässt die Stasi die Nachwelt wissen (ja, ein wenig gelacht werden darf in „Der rote Elvis“ auch). Ein bisschen Größenwahn (Reed wollte als Gouverneur von Colorado kandidieren) und persönliche Rückschläge trieben den einstigen Star letztlich in den Selbstmord.
Der letzte öffentliche Auftritt Reeds zeigt die beiden (sich widersprechenden) Seiten des Sängers recht gut auf: Er widmet den Abschlusssong seiner verstorbenen Mutter und erzählt eine kleine Anekdote aus deren Leben. Das kommt schmalzig und inszeniert rüber – aber gleichzeitig auch ehrlich und echt. Am Ende muss der Zuschauer sich eben sein eigenes Bild machen und es ist sehr begrüßenswert, dass es immer mehr Dokumentarfilme gibt, die ihm diese Freiheit auch einräumen. Dean Reed hätte sich vermutlich gefreut.