34 Todesopfer, mehr als 200 Verletzte und über 250 Millionen Euro Schaden durch Banküberfälle und Sprengstoffattentate: Das ist die Bilanz der 1970 gegründeten und 1998 aufgelösten Rote Armee Fraktion (RAF) - eines der dunkelsten Kapitel der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte. Von 1967 bis zum „Deutschen Herbst“ im Jahr 1977 wütet die linksextremistische Terrorgruppe um Andreas Baader und Ulrike Meinhof in ihrer Hochzeit, versetzt eine ganze Nation in Angst und Schrecken und bringt die Regierung um Helmut Schmidt ins Wanken. Regisseur Uli Edel und Produzent Bernd Eichinger wagen sich nach zahlreichen Verfilmungen erneut an das Thema „RAF“ und befördern in ihrem Drama den Schrecken des Terrors in einer nie da gewesenen Intensität auf die Leinwand. „Der Baader Meinhof Komplex“ ist gewissenhafte Aufarbeitung deutscher Geschichte, welche endlich mit der mystifizierten Revolutionsromantik vergangener Produktionen bricht und ein blutiges, zugleich aber auch realistisches Bild des RAF-Terrors zeichnet.
Deutschland Ende der 60er Jahre: Die Kinder der Nazi-Generation protestieren gegen den Krieg der USA in Vietnam, die Ausbeutung durch den Kapitalismus und eine versäumte Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Vorerst gewaltfrei - zumindest bis zum 2. Juni 1967. Während der Proteste gegen den Staatsbesuch des persischen Schahs in Berlin wird der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen. Die Situation eskaliert und eine gewaltbereite Minderheit beschließt, sich gegen die herrschende Elite zu wehren. Monate später fliegen die ersten Brandbomben in Frankfurter Kaufhäusern in die Luft. Die Verantwortlichen um die Studentin Gudrun Ensslin (Johanna Wokalek) und ihren Freund Andreas Baader (Moritz Bleibtreu) werden verurteilt, können jedoch ins Ausland flüchten. Nach ihrer Rückkehr nach Berlin beginnen Baader und Ensslin, Gleichgesinnte um sich zu versammeln, darunter auch die progressive Starkolumnistin Ulrike Meinhof (Martina Gedeck). Als Baader erneut verhaftet wird, unternehmen Ensslin, Meinhof und andere Radikale im Mai 1970 eine Befreiungsaktion, bei der sie einen schwer verletzten Polizisten zurücklassen. Daraufhin gründen Baader, Meinhof und Ensslin gemeinsam die „Rote Armee Fraktion“, eine Stadtguerilla, die sich dem bewaffneten Widerstand verschrieben hat. Es folgen Bilder, die um die Welt gehen: der gleichzeitige Überfall auf drei deutsche Banken, das erste Opfer auf Seiten der RAF (Petra Schelm, gespielt von Alexandra Maria Lara), Bombenanschläge auf US-Stützpunkte, Polizeidirektionen und das Axel-Springer-Gebäude. Chronologisch wird auf diese Weise die Geschichte der RAF zu ihrer Hochzeit ausgebreitet.
Bereits ein Jahr nach den realen Ereignissen im „Deutschen Herbst“ wollte Bernd Eichinger einen Film über die Terroristin Ulrike Meinhof drehen. Für den jungen Filmemacher war das Thema damals im Jahr 1978 aber zu vielschichtig. Knapp dreißig Jahre später war er bereit, sich dem Thema RAF erneut anzunähern. Eichinger, Produzent von „Der Baader Meinhof Komplex“, der zuletzt mit der Süskind-Romanverfilmung Das Parfum beschäftigt war, schrieb auch das Drehbuch zum Terrorismus-Drama. Eichinger hielt sich dabei an den gleichnamigen Beststeller des ehemaligen „Spiegel“-Chefredakteurs Stefan Aust aus dem Jahr 1985. Als angehender Journalist lernte Aust 1967 die Kolumnistin Ulrike Meinhof beim linken Blatt „Konkret“ kennen. Drei Jahre später ging Meinhof in den Untergrund. „Der Baader Meinhof Komplex“ sollte sein Lebenswerk werden. Passend zum Kinostart in einer Neuauflage erschienen, gilt Austs Buch seit Jahrzehnten als Standardnachschlagewerk zur RAF. Das Drehbuch stand, nun musste noch ein Regisseur verpflichtet werden. Bernd Eichinger besuchte gemeinsam mit dem Regisseur Uli Edel die Filmakademie in München. Seitdem sind die beiden miteinander befreundet. Eichinger produziert, Edel führt Regie – das hatte schon bei den gemeinsamen Produktionen Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo und „Letzte Ausfahrt Brooklyn“ prächtig funktioniert. Mit den Worten „Den Film musst du machen, das ist unsere Generation“, soll Eichinger den Regisseur schließlich überzeugt haben.
Regisseur und Produzent hatten sich gefunden, aber wichtige Fragen blieben offen: Warum eine Geschichte erzählen, die schon viele Male erzählt wurde? Warum Bilder zeigen, die schon Millionen gesehen haben? Und hier hat das Duo das einzig Richtige getan: Weg von den Tätern, hin zu den Taten. Denn häufig wurde Spielfilmen über die RAF wie Volker Schlöndorffs „Die Stille nach dem Schuss“ oder Christopher Roths „Baader“ vorgeworfen, sie würden ihren Protagonisten mit einer gewissen Zuneigung begegnen. „Der Baader Meinhof Komplex“ geht einen anderen, nahezu neutralen Weg. Statt einer fiktiven Dramaturgie zu folgen, richtet Eichinger das Drehbuch nach der Chronologie der Ereignisse aus. Einem Puzzle ähnlich, werden so zehn Jahre auf zweieinhalb Stunden verdichtet. Das erfordert die volle Konzentration des Zuschauers, ist aber zu keiner Zeit ermüdend. So tauchen Personen plötzlich auf, verschwinden aber ebenso schnell auch wieder. Das führt dazu, dass sich der Zuschauer mit keiner der Figuren wirklich identifizieren kann. Der Fülle an Personen und Aktionen und dem hohen Tempo ist es dabei geschuldet, dass der Film jedoch einiges an Hintergrundwissen voraussetzt.
Im letzten Drittel zieht der Regisseur das Tempo noch einmal deutlich an. Der Gerichtsprozess gegen Meinhof, Baader, Ensslin und Jan-Carl Raspe in der Stammheimer Haftanstalt wird nur auf das Wesentliche beschränkt. Hier bietet Reinhard Hauffs Stammheim eindeutig mehr Tiefgang, wenn auch mit dem spröden Charme eines Prozessprotokolls. Auch die Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer und dessen Ermordung reißt Regisseur Edel nur an. Das zweiteilige Doku-Drama „Todesspiel“ fährt da beispielsweise mehr - insbesondere politische - Hintergründe auf. Die werden in „Der Baader Meinhof Komplex“ nämlich nahezu ausgeblendet. Welchem Druck die Bundesregierung unter Helmut Schmidt ausgesetzt war und welche teils „exotischen“ Lösungsvorschläge (Änderungen des Grundgesetzes) die Mitglieder des Krisenstabs machten, lässt Regisseur Edel außen vor.
Von der politischen Situation abgesehen, arbeitet „Der Baader Meinhof Komplex“ die dramatischen Jahre von 1967 bis 1977 in erschreckender Perfektion auf. Für die Inszenierung bediente sich Edel im Archiv und förderte Dokumentarmaterial zu Tage, das er geschickt zwischen den Spielfilmaufnahmen platziert. Bei der Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ etwa verzichtet der Regisseur ganz auf eigenhändig gedrehte Szenen. So wird die Stürmung des Passagierflugzeugs durch die GSG9 lediglich mit Originalaufnahmen von Polizei und Medien bebildert. Sofern möglich, wurde an Originalschauplätzen gedreht. Wenn Polizisten vor der deutschen Oper in Berlin erbarmungslos auf die Demonstranten einprügeln oder Rudi Dutschke seine Vietnam-Ansprache im Auditorium der TU-Berlin hält und Tausende Studenten „Ho-Ho-Ho-Tschi-Minh“ brüllen, läuft es nicht nur den „68ern“ eiskalt den Rücken runter. Auch optisch geht „Der Baader Meinhof“ unkonventionelle Wege. Anders als im Genre üblich, setzte er in Innenräumen auf natürliches Licht, das - wenn nötig - nur verstärkt wurde. Ein simples Stilmittel, das die frostige Atmosphäre des Films hervorragend unterstützt. Beklemmend: Häufig fängt die Handkamera Bilder ein, die bis ins kleinste Detail mit Fernsehübertragungen und Originalfotos der damaligen Zeit übereinstimmen (Beispiel: die Festnahme von Baader und Raspe in Frankfurt).
Womöglich wird gerade dieses Maß an Authentizität für zündenden Diskussionsstoff sorgen. Denn kompromisslos zeigt der Film auch die hemmungslose Brutalität der Baader-Meinhof-Gruppe. Verstümmelte US-Soldaten liegen nach einer Explosion überall verteilt, die Kamera läuft. Auch hier habe sich Regisseur Uli Edel nur an die Polizeiberichte gehalten: „Insgesamt feuerten die Täter 119 Kugeln auf Schleyers Begleitmannschaft. Und genau die habe ich gezeigt.“ Stellt sich dennoch die Frage, ob eine derart drastische Inszenierung notwendig ist? Die Antwort bleibt dem Zuschauer selbst überlassen. Seine eindringliche Botschaft vermittelt der Film jedoch über diese entsetzlichen Bilder. „Ihr kanntet sie nicht. Hört auf sie so zu sehen, wie sich nicht waren.“, faucht Brigitte Mohnhaupt die verbliebenen RAF’ler der zweiten und dritten Generation an. Recht hat sie, denn spätestens nachdem die ersten Sprengsätze detoniert sind und Unschuldige ihr Leben gelassen haben, wird klar: Die RAF war keine Bande linker Revoluzzer, die ein Land verändern wollte. Schnell traten politische Ziele in den Hintergrund und das reine Töten begann, frei von jeglichen Begründungen. Und genau das vermittelt der Film.
Die Kaltblütigkeit der Terroristen auf die Leinwand zu transportieren, darin bestand das größte Hindernis für die Schauspieler. Vor Drehbeginn wurden Tonbänder angehört, Filme und Interviews angesehen, Biografien und Zeitungsartikel gelesen. Die Identifikation mit der Rolle war dennoch mühsam herzustellen. Martina Gedeck (Bella Martha, Das Leben der Anderen) empfand die Figur der Ulrike Meinhof als Traumrolle. Das Ergebnis ist brillant. Ihr gelingt es, die Wandlung der Meinhof von der intellektuellen Journalistin zur fanatischen Terroristin absolut glaubhaft darzustellen. Insbesondere die Szenen im Stammheimer Gefängnis offenbaren eine kaputte, von falschen Moralvorstellungen zerfressene Frau, die selbst von ihren engsten Vertrauten verstoßen wird (Ensslin zu ihr: „Du bist das Messer im Rücken der RAF!“).
Neben Gedeck können auch die anderen Hauptdarsteller eher im letzten Drittel des Films punkten. Moritz Bleibtreu (Free Rainer, München), der schon in Elementarteilchen gemeinsam mit Martina Gedeck vor der Kamera stand, mimt anfangs den temposüchtigen Polit-Punk - ein charmanter Kerl, typisch Bleibtreu eben. Erst als er der Beklemmung der Isolationshaft ausgesetzt wird, arbeitet Bleibtreu die Verzweiflung seiner Figur heraus. Verblüffend ähnlich sieht Johanna Wokalek der echten Gudrun Ensslin. Die Augen schwarz umrandet, wirkt sie stets gefährlich, irgendwie unberechenbar. So räumt sie mit ihrem süßen Image der Leila in Til Schweigers Barfuß auf. Um die zentralen Figuren Meinhof, Baader und Ensslin versammelt Uli Edel die gesamte Prominenz des deutschen Films. Bruno Ganz, der schon in Bernd Eichingers Der Untergang beeindruckend den Hitler gab, tritt in „Der Baader Meinhof Komplex“ als BKA-Chef Horst Herold auf. Äußerst charmant schlägt der Schweizer als Herold so mal eben die revolutionäre Rasterfahndung bei Brot und Hummersuppe vor. Allerdings liefert das Drehbuch kaum andere Protagonisten, die sich gegen die RAF stellen. Eiskalt: Nadja Uhl (Lautlos, Sommer vorm Balkon) als Brigitte Mohnhaupt, der der unbedingte Willen zum Töten wie ins Gesicht gemeißelt scheint.
Fazit: Es braucht eine gewisse Zeit, bis sich der Schmerz, die krassen Bilder und die vielen Eindrücke gesetzt haben. Zweifellos wählt „Der Baader Meinhof Komplex“ mit seiner drastischen Inszenierung einen eigenen Weg, fern vom herkömmlichen Popcorn-Kino. Daran werden sich einige Zuschauer mit Sicherheit stören. Wer allerdings das nötige Vorwissen mitbringt, bekommt ein packendes und authentisches Drama geboten, welches seinen Teil dazu beitragen wird, dass die tragischen Ereignisse in den 70ern nicht in Vergessenheit geraten. Ob der Mythos RAF damit ein für alle Mal zerstört ist, wird sich zeigen. Aber ein Schritt in die richtige Richtung ist der Verzicht auf die Glorifizierung der Täter allemal.
Linktipp: Interview: Moritz Bleibtreu über seine Rolle im RAF-Film