Von dem Film „Submission“, der die Unterdrückung der Frauen im Islam thematisiert, bis aufs Blut gereizt, erschoss ein islamischer Fundamentalist am 2. November 2004 den Filmemacher Theo van Gogh in Amsterdam auf offener Straße. Sein plötzlicher Tod verwehrte dem stets provozierenden Regie-Enfant-Terrible die Verwirklichung eines Wunschprojekts: Der Niederländer träumte davon, eigene US-Remakes seiner Filme zu inszenieren. Nach van Goghs Ermordung entschloss sich eine Gruppe von Freunden des Regisseurs dazu, drei seiner Werke als Hommage-Trilogie für den amerikanischen Markt neu aufzulegen. Den Auftakt macht nun das intime Kammerspiel-Drama „Interview“, das der regieführende Schauspieler Steve Buscemi, der auch am Drehbuch mitgearbeitet und die Hauptrolle übernommen hat, mit kleinem Budget aber großem Herzen angeht.
It-Girl Katya (Sienna Miller) kommt zum Interview mit dem renommierten Journalisten Pierre Peders (Steve Buscemi) glatt eine Stunde zu spät, was ihr Gegenüber ziemlich in Rage versetzt. Aber noch mehr als Pierre über Katyas Unpünktlichkeit ärgert sich diese über die Unprofessionalität des Reporters – nicht einen ihrer Horror-Trashfilme hat er sich angesehen und auch über das Privatleben des Soap-Stars weiß er praktisch nichts. Viel lieber würde Pierre in Washington sein, wo gerade die Regierung aus den Angeln gehoben wird. Stattdessen hockt er nun in einem New Yorker Szenelokal fest und muss sich mit einer oberflächlichen Skandalnudel auseinandersetzen. Beide haben schnell genug von dem Gespräch und verlassen unter gegenseitigen Beschimpfungen das Restaurant. Doch ein Wiedersehen findet schneller statt als gedacht. Pierres Taxifahrer (muMs de Schemer) hat nur Augen für die auf dem Bürgersteig entlangschlendernde Katya und verursacht einen Auffahrunfall, bei dem sich Pierre eine Platzwunde zuzieht. Katya hat ein schlechtes Gewissen und besteht darauf, die Verletzung in ihrem Loft zu behandeln. Es scheint, als ob das Interview nun doch noch zustande kommen würde…
Steve Buscemi (Ghost World, Con Air, Die Insel) erweist mit seiner mittlerweile vierten Spielfilm-Regiearbeit nicht nur dem Original aus dem Jahr 2003 Respekt, indem er – mit Ausnahme der ersten Szene, die in einem Lokal statt in Katyas Wohnung spielt - eng an der Vorlage bleibt, sondern auch van Gogh selbst, dem auf einigen Schriftzügen im Hintergrund dezent gehuldigt wird. Ein Ratschlag: Wer das größtmögliche Kinovergnügen erleben möchte, liest sich am besten vor dem Besuch des Films gar nichts an Informationen an. Desto weniger vorab bekannt ist, desto größer fällt die Überraschung aus, die den Betrachter auf der Leinwand erwartet: Das Drama spielt 84 Minuten lang permanent mit der Erwartungshaltung des Publikums. Dass das Gesehene dabei automatisch in gängige Sehgewohnheiten einsortiert wird, spielt dem Film in die Karten. Nach einer gewissen Zeit wird deutlich, dass hier nichts so ist, wie es scheint. Die Persönlichkeiten der beiden Protagonisten sind auf den ersten Blick zwar ganz klar strukturiert und leicht einzuordnen, doch nach und nach verschwimmen Grenzen und Perspektiven ändern sich. Der Zuschauer ist gefordert, aktiv an der Handlung teilzunehmen, um Wahrheit und Lügen auseinanderzuhalten – auch wenn dies lange Zeit nahezu unmöglich ist.
Was kommt als Nächstes? Werden die beiden in der durchzechten Nacht übereinander herfallen oder sich gar gegenseitig umbringen? Wird Pierre Wort halten und Katyas dunkle Geheimnisse, die diese vor ihm ausbreitet, tatsächlich nicht für seinen Artikel verwenden? Ist überhaupt ein Wort dessen wahr, was Katya da im Drogen- und Alkoholrausch so bereitwillig preisgibt? Ist Pierre zu glauben, wenn er seine Seele vor der Fremden brutal bloßlegt? Oder ist dies nur ein Trick, um an schmutzige Details aus dem Leben des Promis zu kommen? Ausgang offen…
Neben seiner Unvorhersehbarkeit und der inneren Spannung hat „Interview“ noch zwei weitere Stärken, die herausstechen. Die Atmosphäre, die Buscemi seinem Kammerspiel abgewinnt, entfaltet mit der Zeit eine starke Sogwirkung - fast so, als ob die auf der Leinwand reichlich konsumierten Genussmittel bis in die Zuschauerreihen hinein wirken würden. Wie wichtig bei einem Quasi-Zwei-Personenstück die Schauspieler sind, leuchtet sofort ein. Und große Überraschung: Jude-Law-Ex Sienna Miller (Alfie, Der Sternwanderer) zieht im Duell mit Charakterschädel Steve Buscemi keinesfalls den Kürzeren und bietet die bisher beste Leistung ihrer Karriere. Miller ist selbst fester Bestandteil des Klatschbetriebs und lässt sich auch gern mal oben ohne beim Sonnenbaden fotografieren. Dass sie auch als Schauspielerin etwas drauf hat und nicht nur phantastisch aussieht, dokumentiert sie in „Interview“ eindrucksvoll. Buscemi ist der abgefuckte Journalist anstandslos abzunehmen, diesen Typ spielt der Klassemime ohne spürbare Anstrengung mit schlafwandlerischer Sicherheit.
Fazit: „Interview“ ist ein kleiner, feiner Film, der die Festival-Ochsentour absolviert und es nun verdientermaßen doch noch in ein paar deutsche Kinos geschafft hat. Nur beim Schlusstwist übernimmt die Kopflastigkeit zu sehr die Oberhand und das Drama entlarvt sich schlussendlich als Verfilmung einer theoretischen Idee. Wer genauer hinsieht, bekommt aber dennoch einen lohnenswerten Subtext mitgeliefert: Was ist eigentlich von dem zu halten, das die Stars scheinbar unbedarft von sich geben? Hat sich der Journalismus zumindest einen Teil seiner Integrität bis heute bewahrt, oder ist er bereits mit Haut und Haaren dem gefräßigen Gossip-Monster verfallen, das nach immer mehr halbgaren Society-News verlangt?