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    Ein Lied für Argyris
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Ein Lied für Argyris
    Von Christian Horn

    „Ein Lied für Argyris“, der neue Dokumentarfilm des Schweizer Regisseurs Stefan Haupt, setzt sich mit einem weithin unbekannten Kapitel deutscher Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg auseinander: dem Massaker an den Bewohnern des griechischen Dorfes Distomo, das die SS im Juni 1944 als Sühnenmaßnahme für Partisanenangriffe nahe der Ortschaft durchführte. In einem Zeitraum von etwa zwei Stunden wurden 218 Bewohner ermordet, darunter auch Frauen und Kinder, Säuglinge und alte Menschen; der damals vierjährige Argyris Sfountouris wird seiner Eltern und 30 weiterer Familienangehöriger beraubt. Stefan Haupt porträtiert diesen Menschen, der nicht – was durchaus möglich wäre – in Verbitterung und Zynismus versunken ist, sondern sich sein ganzes Leben lang für Menschenrechte und das Nicht-Vergessen der Vergangenheit eingesetzt hat.

    Argyris verbrachte seine frühe Kindheit in verschiedenen Waisenhäusern, bis er schließlich vom Roten Kreuz in das Schweizerische Kinderdorf Pestalozzi nach Trogen gebracht wird. In Zürich studiert er Mathematik und Astrophysik, wird schließlich Lehrer an einem Gymnasium und beginnt griechische Dichter ins Deutsche zu übersetzen. Zudem kämpft er für die Erinnerung an das brutale Massaker, das seine Kindheit überschattete. Argyris organisiert Gedenkfeiern für die Mordopfer von Distomo und hat 1994 in Delphi eine „Tagung für den Frieden“, an der etliche europäische Wissenschaftler und Intellektuelle teilnahmen, organisiert, bei der sich trotz Einladungen nicht ein einziger deutscher Politiker blicken ließ.

    Die Geschehnisse des Massakers und die vorhergegangene Entwicklung des Zweiten Weltkriegs zeichnet Stefan Haupt vornehmlich anhand von Archivaufnahmen und mit Hilfe eines Off-Kommentars nach. Ein immer wiederkehrendes Schwarz-Weiß-Foto des jungen Argyris prägt sich dem Betrachter besonders ein: Der Junge steht mit freiem Oberkörper vor einer Frau, die ihm die Hände auf die Schultern legt. Argyris wirkt sehr zerbrechlich und in seinem Blick, seinem gesamten Gesichtsausdruck, liegt die tiefe Verzweiflung eines Kindes, das zu früh und auf grausame Art und Weise erwachsen werden musste. Abgesehen von diesem einprägsamen Bild ist der Teil des Films, der sich mit den historischen Hintergründen auseinander setzt, wenig spektakulär und eigentlich kaum der Rede wert.

    Interessant wird der Dokumentarfilm, wenn er sich in der Gegenwart bewegt und auf die Präsenz seines herausragenden Protagonisten zählen kann. Stefan Haupt begleitet Argyris auf einer Reise nach Griechenland, führt Gespräche mit ihm und lässt ihn seine Erinnerungen an das Massaker stückweise erzählen. Es ist faszinierend zu sehen, dass Argyris ein lebenslustiger Mensch ist, der die Erinnerungen an die Gräuel seiner Kindheit in Energie umzuwandeln weiß, sein Schicksal als Antrieb nutzt und nicht von Trauer erstickt wird. Neben den erwähnten Tätigkeiten unterstützte er griechische Dichter während der Militärdiktatur in Griechenland, indem er deren Gedichte in der von ihm gegründeten Widerstandzeitung „Propyläa“ veröffentlicht. Außerdem war Argyris in Somalia, Nepal und Indonesien als Entwicklungshelfer tätig; eine Zeit, die er heute als die schönste seines Lebens bezeichnet, „als ob die Vergangenheit und all das Tragische, das ich erlebt hatte, dort irgendwie aufgehoben, jedenfalls nicht so abgelehnt, tabuisiert oder verdrängt war. Es gehörte zum Leben, ohne dass es wehtat.“

    Es gehörte zum Leben, ohne dass es wehtat.

    Ein Satz, der die Geschichte Argyris’ ähnlich kompakt und erschütternd zusammenfasst wie das Foto aus seiner Kindheit.

    Besonders im letzten Drittel gewinnt Haupts Dokumentarfilm eine weitere Dimension, eine politische nämlich. Es geht um die Reparationszahlungen, welche der deutsche Staat bis heute verweigert. Erst nach der Wiedervereinigung Deutschlands wurde im so genannten „2+4-Vertrag“ ein Verzicht auf Reparationszahlungen ausgesprochen – allerdings nur zwischen den vier Siegermächten. Griechenland und etliche andere Länder sind von dieser Regelung ausgeschlossen, ein Umstand, der die Forderung nach Entschädigungen zumindest theoretisch wieder möglich macht. Eine heikle Diskussion für Deutschland: Sollte die von Argyris gemeinsam mit seinen Schwestern eingereichte Klage, und die parallel eingereichte Sammelklage von 290 Opfern aus Distomo, Erfolg haben, hätte das zur Folge, dass der deutsche Staat sich immensen Forderungen auf internationaler Ebene stellen müsste. Bisher wurden die Klagen sowohl vom Landesgericht Bonn, als auch vom Oberlandesgericht in Köln und dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe abgelehnt; ebenso fiel eine 2003 eingereichte Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe negativ aus. Eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, die letzte juristische Instanz, wurde im Juni vergangenen Jahres eingereicht. Die Antwort steht noch aus.

    Trotz der Schwächen in der dokumentarischen Aufarbeitung der historischen Hintergründe nimmt „Ein Lied für Argyris“ den Zuschauer gefangen. Das gelingt vor allem durch die charismatische Präsenz von Argyris Sfountouris, dessen Geschichte mehr als wert ist erzählt zu werden. Stefan Haupts Film sensibilisiert für die persönlichen Schicksale der Opfer von Kriegsverbrechen und entrückt das Massaker von Distomo aus dem kalten Rahmen von Zahlen und Fakten. Ein zutiefst humanistischer, politisch ambitionierter Dokumentarfilm, der letztlich das macht, was Argyris sein Leben lang getan hat: sich für die Menschlichkeit einsetzen.

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