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    Helen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Helen
    Von Andreas Staben

    In Deutschland leiden etwa vier Millionen Menschen an Depressionen. Es ist eine zugleich allgegenwärtige und dennoch oft unerkannte Krankheit, der zudem häufig mit Unverständnis begegnet wird. Regisseurin Sandra Nettelbeck plante bereits seit dem depressionsbedingten Selbstmord einer Jugendfreundin im Jahre 1995 einen Spielfilm über die Erkrankung und ihre Wirkung. Angesichts des düsteren Themas gelang die Finanzierung des Projekts allerdings erst nach dem Erfolg von Nettelbecks melancholischer Komödie Bella Martha: Beim Festival in Sundance Anfang 2009 konnte die aus Hamburg stammende Filmemacherin nach über zehnjähriger Entstehungszeit endlich ihr Drama „Helen“ vorstellen. Die Gratwanderung zwischen einer massentauglich abgefederten, vereinfachten Sicht auf ein komplexes Problem und einem überfrachteten, am eigenen Anspruch erstickenden Thesenfilm gelingt Nettelbeck in ihrer ersten englischsprachigen Produktion überzeugend. Trotz des dramaturgisch nicht immer ganz gelungenen Handlungsaufbaus ist „Helen“ ein medizinisch und psychologisch stimmiges Porträt einer Leidenden und ihres Umfelds. Die Sachlichkeit der klinischen Fallstudie wird durch die einfühlsame Inszenierung und eine herausragende Darstellung von Ashley Judd in der Titelrolle nachhaltig mit Emotionalität angereichert.

    Die Pianistin und Musikprofessorin Helen (Ashley Judd, Heat, Twisted, High Crimes) führt scheinbar ein Bilderbuchleben. Sie ist glücklich mit dem Anwalt David (Goran Visnjic, The Deep End, Elektra) verheiratet und hat in Julie (Alexia Fast, Fido) eine wohlgeratene 13-jährige Tochter. Doch die Existenz in Wohlstand und Zufriedenheit beginnt sich einzutrüben. Helen wird zunehmend von Traurigkeit, Müdigkeit und Lustlosigkeit ergriffen. Sie beginnt sich zurückzuziehen und ihr Verhalten führt zum Streit mit David. Nachdem er sie eines Tages zusammengebrochen im Bad gefunden und ins Krankenhaus gebracht hat, erfährt der Ehemann, dass seine Gattin körperlich gesund ist, aber an Depressionen leidet. Helen wird zunächst mit Medikamenten behandelt, die allerdings gefährliche Nebenwirkungen haben. Die Krise verschärft sich und die familiären Spannungen nehmen zu. Die Selbstmordgefahr macht einen Psychiatrieaufenthalt unumgänglich. Nur ihre selbst manisch depressive Studentin Mathilda (Lauren Lee Smith, Pathology, One Way) lässt Helen noch an sich heran.

    Ashley Judd war vor einigen Jahren selbst wegen schwerer Depressionen in Behandlung. Das mag eine Erklärung für ihre fast beängstigend echt wirkende Darstellung sein, überraschend ist die Leistung aber sowieso nicht. Schon in Filmen wie Die göttlichen Geheimnisse der Ya-Ya Schwestern und Bug zeigte die Schauspielerin ein besonderes Talent für den Ausdruck psychischer Störungen. Als Helen vermittelt sie das ganze Spektrum mentaler Zustände ohne zu forcieren oder zu übertreiben. Wut und Apathie, körperliche und seelische Erschöpfung, innere Leere und tiefe Verzweiflung: Judd trifft jede Nuance und gestaltet vor allem den unmerklichen Übergang von der scheinbaren Normalität zur behandlungsbedürftigen Krankheit zwingend. Erschöpfung und Lustlosigkeit kennt ein jeder aus dem Alltag, indem Judd und Nettelbeck diese ersten Zeichen zwar deutlich werden lassen, aber nicht überbetonen, wird eine der größten Schwierigkeiten im Umgang mit Depressionserkrankungen auf den Punkt gebracht. Von außen wirken diese Symptome so vieldeutig wie missverständlich, das Tückische an der Krankheit ist, dass ihr die klar benennbare Ursache meist fehlt.

    Helen ist nicht unglücklich, sondern krank. Diese Einsicht ist für Freunde und Familie schwer zu verinnerlichen. Das demonstriert Nettelbeck exemplarisch an David und Julie. Der Ehemann sucht Erklärungen, wo keine sind, und leidet sichtbar unter der Zurückweisung durch Helen. Immer wieder glaubt er, eine Willensleistung seiner Frau könnte Besserung bringen. Goran Visnjic bewährt sich als Identifikationsfigur auch in den schematischen Episoden, etwa wenn gleichsam im Vorübergehen gezeigt wird, dass seine Arbeit unter der Situation leidet oder wenn die Zuneigung einer verständnisvollen Kollegin lockt. Auch das eigentlich sehr harmonische Verhältnis von Mutter und Tochter wird von Nettelbeck ohne Beschönigung aufgelöst. Mit dem Interesse am Leben droht auch die Anteilnahme für das eigene Kind zu erlöschen, für den Teenager Julie eine ebenso unerträgliche wie unverständliche Gemütslage. Alexia Fast gelingt es ähnlich wie Visnjic, die extreme Belastung trotz knapp gehaltener Auftritte spürbar werden zu lassen. Nettelbeck setzt den Fokus ganz klar auf Helens Perspektive, die Szenen ohne sie scheinen daher trotz aller Stimmigkeit im einzelnen eher dem Bedürfnis nach einer umfassenden Darstellung des Themas als einer dramatischen Notwendigkeit zu entspringen.

    Einziger neben Helen voll entwickelter Charakter ist die Leidensgenossin und Lebensretterin Mathilda. Lauren Lee Smith ist eine wunderbare Ergänzung zu Ashley Judd. Die in einem chaotischen Loft wohnende Cello-Studentin ist in vieler Hinsicht ganz anders als ihre Dozentin, aber die Krankheitserfahrung schafft eine prekäre Nähe zwischen ihnen. Das Zusammenspiel der beiden Darstellerinnen lässt aus der paradoxen Beziehung von zwei bindungsunfähig Gewordenen das emotionale Zentrum des Films werden, nur das Ende dieses gemeinsamen Weges ist unbefriedigend. Die betreffende Wendung ist zu offensichtlich kalkuliert, auch wenn sie der Realität der Krankheit entspricht.

    Bei einem geselligen Abendessen im Freundeskreis sagt einer der Anwesenden voller Neid zu David, dass er ein perfektes Leben führe. Helen hat sich in dem Moment schon vom Tisch erhoben, sie wird ohne Gruß und ohne ersichtlichen Grund nach Hause fahren. Die perfekte Fassade ermöglicht der Regisseurin und Autorin Nettelbeck eine umso klarere Sicht auf die Brüche unter der Oberfläche. Mehr noch als in Bella Martha spiegelt die Bildsprache mentale Zustände wider. Geschickt gewählte Schauplätze wie leere Gänge oder Säle an der Universität und ein verlassenes Haus am Meer, eine zunehmend monochrome Farbgebung und das bedrückende Weiß des Krankenhauses: Auch gestalterisch wird Helens Versinken in der Depression nachvollzogen. Sandra Nettelbeck erreicht ihr doppeltes Ziel: Sie leistet Aufklärung über ein schwieriges Thema und sie berührt mit einem gefühlvollen Drama.

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