Mit ihrem zweiten Kinofilm Fremde Haut landete Angelina Maccarone mit dem schwierigen Thema einer illegal nach Deutschland geflohenen lesbischen Iranerin einen unerwartet großen Erfolg beim Publikum und beeindruckte die Presse. Nun legt sie mit einem nicht minder kontroversen Thema ordentlich nach. Wieder ist eine schwierige, ja unmögliche Liebe der Stoff, aus dem sie eine exemplarische Realität schneidert. Und wieder blickt sie in die Abgründe der gesellschaftlichen Konventionen, die offen gelegt werden, wenn man hinter diesen Stoff blickt. Die nach Skandal riechende Geschichte einer sadomasochistischen Beziehung zwischen einer 50-jährigen Bewährungshelferin und ihrem 16-jährigen Delinquenten inszeniert Maccarone in dem Psycho-Drama „Verfolgt“ ohne jeden Voyeurismus und dafür umso eindringlicher.
Die flotte und selbstbewusste Elsa (Maren Kroymann) hat die Dinge im Griff. In ihrem Job als Bewährungshelferin trifft sie die richtige Mischung aus Verständnis und Rigorosität gegenüber ihren gewieften Schützlingen, die Ehe mit Raimar (Markus Völlenklee) läuft unaufgeregt vor sich hin, der Abschied von der Tochter, die auszieht, vollzieht sich offensichtlich mehr herzlich als schmerzlich. Als ihr jedoch der 16-jährige Jan (Kostja Ullmann) als neuer Klient zugeteilt wird, geraten die fest geglaubten Positionen der gestandenen 50-Jährigen gehörig ins Wanken. Mit seinem sprunghaften Auftreten zwischen selbstsicher aufdringlicher Anhänglichkeit und frivol offenem Unterwerfungswillen bringt er die erfahrene Sozialarbeiterin schnell an die Grenzen ihrer pädagogischen Verfahren. Sein unbeirrbares Wissen um sein sexuelles Wollen macht Elsa ihre eigene Unsicherheit hinsichtlich ihrer Gelüste deutlich. Zögernd erforscht sie eine Gefühlswelt, die in der Ordnung der konventionellen Gesellschaft nicht vorgesehen ist.
Regisseurin Maccarone schafft mit ihrer Drehbuchautorin Susanne Billig das Wunder, mehrere komplexe und kontroverse Themen so ineinander zu verschmelzen, dass dabei eine glaubwürdige und nachvollziehbare Story herauskommt und gleichzeitig jedes Thema für sich in seiner Brisanz und Vielschichtigkeit deutlich wird. Als Bewährungshelferin vertritt die Figur der Elsa die Werte und Normen der Gesellschaft – und übertritt sie durch das Zusammentreffen mit Jan gleich dreifach: Sie lässt sich nicht nur auf eine Beziehung mit einem Schutzbefohlenen ein, er ist auch noch jünger als ihre eigene Tochter und noch dazu erprobt das eigenwillige Paar die Freuden und Leiden von sadomasochistischer Liebe. Kostja Ullmanns Gesicht, sein gesamter Körper ist ein einziges jugendlich-unbändiges Begehren, das er mit erstaunlicher Konsequenz einfordert, gepaart mit einer rührenden Zartheit und Schutzbedürftigkeit. In Elsa findet er sein genaues Pendant, eine Frau, die gewohnt ist zu sagen, wo es lang geht, ohne jedoch ihre eigenen Wünsche je kennen gelernt zu haben. Die eher als deftige Komödiantin bekannte Kroymann legt die verwundbaren Stellen dieser starken Frau hochsensibel frei, ohne je in Sentimentalität zu verfallen.
Die explosive Emotionalität, die sich zwischen den beiden enorm präsenten Hauptdarstellern entspinnt, fängt Bernd Meiners mit seiner Kamera feinfühlig ein. Die Entscheidung für die konsequente Darstellung in Schwarz-Weiß macht sich vor allem in jenen Szenen bezahlt, die per se zum voyeuristischen Lechzen einladen. Die nüchterne und auf kontrastierende Farbgebung erstickt jedoch jede in diese Richtung gehende Schaulust und konzentriert stattdessen den Blick auf das, was hinter dem Körperlichen geschieht. Schonungslos offenbaren sich hier zwei Menschen in all ihrer Unsicherheit, und sie tun dies über ihre Körper: nicht mehr ganz taufrisch und dabei längst nicht unattraktiv der 50-jährige, noch nicht ganz ausgereift und dabei schon sehr anziehend der des 16-Jährigen. Man darf den beiden zusehen, wie sie die Mechanismen des Sadomasochismus tastend kennen lernen, sich selbst und den anderen erproben. Mit dieser Herangehensweise an das Aufregerthema aus ungezählten nachmittäglichen Talkshows trägt Maccarone ungleich leiser, aber nachhaltiger zum Verständnis dieser Sexualpraxis bei, vor allem aber entmystifiziert sie sie, indem sie die Protagonisten im ganz normalen Bürgertum ansiedelt – und ist dabei viel aufregender, als es jedes wilde Peitschengeschwinge in Lacklederkorsage ist. Sie nämlich ist dem auf der Spur, was die Menschen suchen, wenn sie Macht und Untergebenheit, kontrollierte Gewalt und Ausgeliefertsein erleben wollen.
Offenbar wird in „Verfolgt“ durch die genau gezeichneten Nebenfiguren aber auch, wie eng die Konventionen trotz aller öffentlich gepredigten sexuellen Freiheit und des Allgegenwärtigen (Zer)Redens und Zeigens jeder erdenklichen Praxis doch sind. Weder Elsas unkonventionell wirkender Gatte, noch ihr mit lockeren Sprüchen gesegneter Vorgesetzter im Jugendamt, und am allerwenigsten die antiautoritär aufgewachsenen Altersgenossen Jans wollen und können diese gegen den Strom schwimmende Liebe akzeptieren. Bezeichnend, dass gerade die Jüngsten am heftigsten auf dieses Aus-der-Rolle-Fallen reagieren. Der beim Filmfest in Locarno mit dem Preis des Goldenen Leoparden in der Kategorie „Cinéastes du Présent“ ausgezeichnete Film erzeugt in seiner atmosphärischen Dichte eine enorme Sogwirkung. Die facettenreiche Ausgangssituation und ihre fein gesponnene Entwicklung provozieren kontroverse Diskussionen gerade weil das Klischéethema SM hier herunter gebrochen wird auf einzelne Menschen, die einem jeden Tag auf der Straße begegnen. Diesem nur durch Förderung des Kuratoriums junger deutscher Film, der Filmförderung Hamburg und der MEDIA MFI sowie die finanzielle Beteiligung von Cast und Crew ermöglichten mutigen Film sind weitere Auszeichnungen und Preise zu wünschen, damit neue Werke ähnlicher Intensität in der Produktionsschmiede MMM Film entstehen können.