Vor zwei Jahren bekam Paris mit Paris, Je T´Aime eine filmische Hommage in 18 Episoden spendiert. Doch die kurze Spieldauer, die jedem Regisseur für seine persönliche Sicht auf die Stadt der Liebe zur Verfügung stand, erwies sich als großes Manko und führte zu einem unausgegorenen Stilmix. Bei dem Episoden-Projekt „Tokyo!“ wurde den drei beteiligten Regisseuren Michel Gondry, Leos Carax und Joon-ho Bong glücklicherweise deutlich mehr Zeit zu kreativen Entfaltung zugestanden. So darf sich der Zuschauer nun auf drei originelle Kurzfilme freuen, die jeweils in der japanischen Hauptstadt verortet sind. Alle drei Geschichten haben gemein, dass sie von Menschen erzählen, die außerhalb der homogenisierten japanischen Gesellschaft stehen, oder sich nicht mehr in ihr zurechtfinden.
Interior Design handelt von Hiroko (Ayako Fujitani) und Akira (Ryo Kase), die gerade in Tokyo angekommen sind und nun auf den Durchbruch von Akira als Horrorfilmregisseur hoffen. Das junge Paar kommt erst einmal in der engen Wohnung einer Bekannten unter. Möglichst bald soll ein erschwingliches eigenes Quartier her. Doch weder Wohnungssuche noch Filmpremiere laufen wie erhofft. In der Enge des Appartements herrscht schon bald Unmut vor. Während Akira noch immer voller Zukunftsambitionen ist, weiß Hiroko nicht recht, was für einen Weg sie einschlagen soll. In der Isolation der Großstadt macht sie eine kafkaeske Transformation durch…
Den eigentlich in den USA verorteten Comic „Cecil And Jordan In New York“ seiner Lebenspartnerin Gabrielle Bell hat Michel Gondry (Abgedreht, Block Party, Vergiss mein nicht) kurzerhand nach Tokyo verlegt. Seine Episode begeistert dank einer Inszenierung, die alle Stärken des Regisseurs in der komprimierten Spielzeit vereinigt. Die melancholische Story lebt von amüsant-hintergründigen Dialogen, schrägen Gegebenheiten und einer herrlich fantasievollen Schlusspointe, die den Film auf wundersame Weise abrundet. Auch die guten Leistungen der japanischen Darsteller tragen dazu bei, dass sich gleich die Eröffnungsepisode der Kurzfilmtrilogie als echtes Highlight erweist. Insbesondere die Hauptdarstellerin Ayako Fujitani begeistert mit ihrer Darstellung der immer mehr in Selbstzweifel versinkenden Hiroko. Sie arbeitet die Orientierungslosigkeit und Unzufriedenheit der Mittezwanzigerin präzise heraus. Die notorische Platznot in Tokyo wird auf genauso charmante Weise thematisiert, wie der Selbstverwirklichungsdrang der modernen Industrienationen. Eine Perle des Kurzfilmgenres!
In Merde krabbelt ein rothaariger Kobold (Denis Lavant) aus Tokyos Kanalisation, der die Bevölkerung mit seinen verstörenden Aktionen in Angst und Schrecken versetzt. Nachdem er Granaten auf unbescholtene Bürger geworfen hat, wird er endlich gefasst und ins Gefängnis geworfen. Doch niemand versteht die eigentümliche Sprache des abstoßenden, am liebsten Blumen und Geldscheine verspeisenden Wesens. Erst als sich ein französischer Jurist (Jean-Francois Balmer) als Dolmetscher anbietet, kann der Prozess, der in ein riesiges Medienereignis ausartet, beginnen…
„Merde“ ist der aggressivste und direkteste Beitrag der Kompilation. Die Geister werden sich hier wohl schon an dem unruhestiftenden Protagonisten und seinen Verständigungsformen scheiden. Die Kritik an der Uniformität des japanischen Gesellschaftssystems und der Sensationsgier der Medien ist unverkennbar. An der routinierten Inszenierung von Regisseur Leos Carax, der neun Jahre nach „Pola X“ erstmals wieder auf dem Regiestuhl Platz nahm, sowie dem Spiel des in seiner Koboldgestalt aufgehenden Denis Lavant (Mathilde – Eine große Liebe), gibt es nichts zu bemängeln. Und zumeist sind die von einem nihilistischen Geist durchzogenen Vorkommnisse auch durchaus witzig. Trotzdem hat der Beitrag seine Längen. Gerade das Gespräch zwischen Merde und seinem Rechtsanwalt, das sich als ein Mischmasch aus Ohrfeigen und wildem Knurren erweist und ohne Untertitel daherkommt, ist zu ausladend geraten. Einige Kürzungen hätten dem abgedrehten Koboldfilm seine ohne Zweifel vorhandene Würze auch bis zur letzten Minute gesichert. Wobei das Ende noch eine versöhnlich stimmende Überraschung parat hält.
Als Hikiomori werden in Japan Menschen bezeichnet, die ihre eigenen vier Wände nie verlassen und ein von der Außenwelt gänzlich abgekapseltes Leben führen. Der namenlose Protagonist (Teruyuki Kagawa, Tokyo Sonata) von Shaking Tokyo ist ein solcher Hikimori, der seine sozialen Kontakte auf den wöchentlichen Besuch des Pizzakuriers reduziert hat. Doch auch dieser einzige menschliche Umgang ist ihm eigentlich noch zu viel. Deshalb reagiert er auch äußerst verstört, als die Pizzabotin plötzlich vor seiner Tür in Ohnmacht und mitten in sein heiliges Einsiedlerreich fällt. Doch die Panik weicht schnell aufkeimenden Gefühlen für das vor ihm liegende Mädchen. Als die Pizzabotin auch noch seinen Ordnungswahn lobt, bevor sie das Appartement wieder verlässt, ist er endgültig hin und weg. Doch kann er für die Liebe wirklich sein Dasein als Hikimori aufgeben…
Im abschließenden Teil der Kompilation nimmt sich der koreanische Regisseur Bong Joon-ho (Memories Of Murder, The Host) dem Hikiomori-Phänomen an. Dabei bekommt die Geschichte immer wieder durch das Beben der Erde neue Impulse. So fällt die Pizzabotin als Reaktion auf ein Erdbeben in Ohnmacht und rüttelt damit das von Einsamkeit und Ordnungszwängen geprägte Leben des Namenlosen auf. Mit viel Poesie inszeniert Bong den eigenartigen Mikrokosmos des sich von der Gesellschaft gänzlich ausschließenden Mannes. Insgesamt ist „Shaking Tokyo“ ein ordentlicher, wenn auch etwas behäbiger Abschluss. Allerdings kommt die symmetrisch ausgerichtete Isolationswelt innerhalb der Wohnung zu schön und reinlich daher, was letztlich zu einer gewissen Verharmlosung dieser extremen Form der sozialen Phobie führt.
Fazit: Auch wenn die Qualität des wunderbaren „Interior Design“ von den beiden nachfolgenden Episoden nicht ganz erreicht wird, ist „Tokyo!“ doch eine auf jeden Fall sehenswerte Kurzfilmkompilation, die dem Zuschauer drei abwechslungsreiche und fantasievolle Geschichten vor dem Hintergrund einer pulsierenden Millionenmetropole bietet.