Wahrscheinlich wäre „Chaos“ unbemerkt in der Versenkung verschwunden. Vielleicht hätte niemand Kenntnis von dem unsäglichen Rape-Revenge-Movie genommen. Allen wäre ein großes Ärgernis erspart geblieben. Aber ausgerechnet Roger Ebert, der bekannteste Filmkritiker der USA, verfasste eine vernichtende Rezension, die der Regisseur David DeFalco und der Produzent Steven Jay Bernheim kurzerhand für einen Gegenangriff nutzten. In einem einseitigen, in der Chicago Sun-Times abgedruckten Brief verteidigten sie ihren Film und dessen hässliche, nihilistische und gewalttätige Inszenierung. Ebert reagierte mit dem Artikel „Evil In Film: To What End?“. Die Filmemacher verstummten – und „Chaos“ hatte ausreichend Publicity geerntet, um die einschlägigen Kreise neugierig zu machen. Hätte Roger Ebert doch nur seine Klappe gehalten.
Emily (Chantal Degroat) und Angelica (Maya Barovich) treffen bei einer Raveparty einen Fremden (Sage Stallone), der ihnen versichert, seine Freunde auf der anderen Seite des Waldes hätten das beste Ecstasy, das zu bekommen sei. Trotz anfänglicher Zweifel folgen die beiden jungen Frauen dem Unbekannten. Was folgt, ist die Hölle auf Erden. In einer abgelegenen Hütte wartet der gesuchte Gewaltverbrecher Chaos (Kevin Gage) mit zwei seiner Gefolgsleute. Zusammen verschleppen sie ihre Opfer in die Tiefen des Waldes, um sie dort zu vergewaltigen und bis aufs Blut zu quälen…
„Im Durchschnitt werden jedes Jahr 100 Jugendliche von Fremden entführt und ermordet. In ihrer großen Mehrheit sind die Opfer Mädchen. Sexuelle Befriedigung ist das Hauptmotiv dieser Mörder, von denen die meisten zuvor schon wegen schwerer Gewaltverbrechen in Haft waren.“ – Warnhinweis vor dem Film
Angefangen hat der ganze Spuk als simples Remake des Genreklassikers „Last House On The Left“ von Wes Craven, der wiederum von Ingmar Bergmans „Die Jungfrauenquelle“ inspiriert wurde. Produzent Bernheim engagierte mit David Hess sogar einen der Darsteller des Originals. Doch nach wenigen Drehtagen war er sicher, dass ausreichend eigenständige Ideen vorhanden seien und Regisseur DeFalco keine billige Neuauflage inszenieren müsse. David Hess wurde entlassen, dafür aber an dem Vertrag mit Sage Stallone (Rocky V) - wohl aus Prestigegründen - festgehalten. Die Arbeit vor der Kamera wurde fortgesetzt – und rückblickend kann man sich nur entrüstet fragen, wie sich jemand derart dreist selbstüberschätzen und „Chaos“ als eigenständigen Film vermarkten kann. Großspurig steht im Abspann: „Based On An Original Idea By Steven Jay Bernheim And David DeFalco“. Doch selbst ein Blinder muss erkennen, dass abgesehen von minimalen Details und einem verhunzten Finale die Folterorgie konsequent dem Drehbuch des Wes-Craven-Kultfilms folgt.
Doch auch unabhängig von dem Ideenklau ist das Ergebnis einfach nur ärgerlich. Die Charaktere sind derartig unausgereift, dass es nahezu unmöglich ist, Sympathien zu empfinden. Wieso sich die Mädchen entschließen, dem Unbekannten in den Wald zu folgen, ist nicht ersichtlich. Sage Stallone ist als Lockvogel nicht sonderlich charmant, außerdem ist er auf der Party sicher nicht der einzige Drogendealer. Selbst die stetig zweifelnde Emily entscheidet sich urplötzlich doch zum Mitgehen. Hier folgt das Drehbuch seiner eigenen „Logik“, um schlussendlich die selbstzweckhaften Gewaltexzesse zeigen zu können. Dagegen ist Kevin Gage als soziopathische Titelfigur überzeugend und einschüchternd. Allerdings bewegen sich auch die Gründe für sein Handeln und das seiner Komplizen auf einem papierdünnen, klischeebelasteten Niveau. Chaos ist die irdische Inkarnation des absoluten Bösen. So etwas kann vielleicht einen klassischen Horrorfilm tragen – in den Kontext des angeblich angestrebten Lehrfilmes (Warntafel zu Beginn des Films) passt eine derartige Figurenzeichnung jedoch sicherlich nicht.
Überhaupt ist das Vorschieben dieses Ziels eine ziemliche Frechheit. Wieso suhlt man sich in einem Mahnwerk in derartigen Brutalitäten und bezeichnet sein Werk dann auch noch stolz als „den brutalsten Film aller Zeiten“? Würde für eine abschreckende Wirkung nicht auch ein minimaler Prozentsatz der gezeigten Gräueltaten ausreichen? Und welche Lehre sollen die potentiellen Zuschauer eigentlich aus diesem Machwerk ziehen? Dass sie nicht auf Partys gehen sollen? Dass sie keine Technomusik hören sollen? Dass sie keine Drogen nehmen sollen? Oder dass sie keinen unbekannten Männern in den Wald folgen dürfen? Jeglicher Denkansatz ist schlussendlich verfehlt, da das angeblich angestrebte Publikum nur durch die unnötigen Grausamkeiten abgeschreckt und es vermeiden würde, näher über den Film nachzudenken. Ausgehend von der Filmhandlung verschwendet an diese unsinnige Mahnwache besser niemand einen Gedanken. Denn zu keinem Zeitpunkt gibt es für die Mädchen einen Ausweg aus dieser misslichen Lage. Sie sind schlicht und einfach in dieser Situation gefangen und können sich nicht dagegen wehren. Das Böse triumphiert lachend und reißt selbst die vorsichtigsten Menschen in den Abgrund. Bei einer derartig misanthropischen und schwarzmalerischen Weltanschauung benötigt das Publikum ganz sicher keine mahnenden Lehrfilme.
Allerdings wäre „Chaos“ auch ohne diesen vermeintlich weltverbessernden Mantel eine grausige Genregurke mit zahllosen Logiklöchern. Natürlich fangen die Fieslinge ihre Opfer immer wieder ein – auch wenn sie dafür die Qualitäten eines ausgebildeten Spürhundes an den Tag legen müssen. Selbstverständlich sind im Wald nur die gequälten Schreie der Mädchen zu vernehmen, obgleich sich das Ganze doch eigentlich in der Nähe einer Rave-Party abspielt. Schlussendlich unterstreichen diese enervierenden Zufälligkeiten nur die Übermächtigkeit der Psychopathen. Nicht nur, dass diese in ihrem Vorgehen konsequent und erbarmungslos sind, ihr Handeln wird auch ohne Zweifel zum dramatischen „Erfolg“ führen. Besorgnis um den bevorstehenden und qualvollen Tod der Mädchen kann der Zuschauer nie haben. Dem Zufall wird zu viel, zu häufig und zu offensichtlich nachgeholfen. Mit einem derartig absehbaren Handlungsverlauf fällt es naturgemäß schwer, Spannung und Atmosphäre aufzubauen – aber das war wohl auch gar nicht das Ziel der Filmemacher.
So dümpelt „Chaos“ über weite Strecken auf seine vermeintlichen „Höhepunkte“ zu. Emotional reißen die Gewaltexzesse den Zuschauer jedoch nicht mit. Zwar fühlt man sich aufgrund der Drastik der Szenen wie nach einer fast verlorenen Schlägerei auf Leben und Tod – es wäre allerdings auch äußerst erschreckend, wenn die Filmemacher derartige Brutalitäten inszenieren würden und der Zuschauer bliebe hiervon gänzlich unberührt. Aufgrund der voyeuristischen Herangehensweise, die zu viele blutige Details offenbart, wird allerdings nicht eine ähnlich verstörende Intensität wie etwa in Irreversible erzeugt. Die Szenen kippen vielmehr ins absolute Gegenteil um und sind nur noch das simpelste Ausschlachten eines gespielten Martyriums.
Achtung Spoiler! Gänzlich verdreht werden der Film und seine angebliche Aussage schließlich durch das groteske Finale. Treu der Bergman’schen und Craven’schen Vorlagen werden die Leichen der Mädchen von den Eltern (miserabel dargestellt von Deborah Lacey und Scott Richards) im Wald gefunden. Die Verbrecher suchen sodann im elterlichen Haus Unterschlupf und werden dort anhand eines Gürtels der Tochter identifiziert. Die Eltern entschließen sich zur eigenhändigen Rache, die mit Feuerwaffe und Kettensäge zelebriert wird. Gipfel der Gewalt ist eine Reservoir Dogs-artige Tötungskettenreaktion, die einzig Chaos überlebt. Mit seinem fiesen Lachen wird in den Abspann ausgeblendet. Ein derartig nihilistischer Abschluss passt allerdings keineswegs zu der Intention des „Aufklärungsfilms“. Vielmehr wird nur ein weiteres Mal entlarvt, wie inkonsequent die Filmemacher an ihre Arbeit gegangen sind. Sie wollten zwar den Mantel eines erzieherischen Films über die Gewaltexzesse legen, über eine Moral oder einen Ausweg haben sie sich jedoch keine Gedanken gemacht. Es sind einfach nur undurchdachte Phrasen, mit denen die Verantwortlichen ihre Gewaltexzesse zu rechtfertigen versuchen. Spoilerende!
Mit meterhohen Buchstaben steht „Chaos“ der beabsichtigte Skandal auf die Stirn geschrieben. Zwar erreichen die Verantwortlichen mit ihren selbstzweckhaften Gewaltexzessen die gewünschte Provokation – qualitativ rettet dies den in jeder Hinsicht gescheiterten Film allerdings nicht. Angeblich soll das Martyrium der Hauptfiguren als Warnhinweis für potentielle Tatopfer verstanden werden. Diese unausgegorene Intention wird aber weder schlüssig noch tiefgründig fortgeführt, sondern endet in einem nihilistischen Finale, das die Moral vollkommen auf den Kopf stellt. Schlussendlich ist aber nicht die schwachsinnige Auseinandersetzung mit der vermeintlichen Thematik der Todesstoß für „Chaos“, sondern vielmehr die Tatsache, dass der Film einfach schrecklich langweilig und banal ist. Selbst hartgesottene Genrefans werden keinen Spaß an diesem über alle Grenzen hinaus schießenden Quatsch haben.