Im Zentrum der 62. Filmfestspiele in Cannes mag die Premiere der Inglourious Basterds gestanden haben. Zumindest als Gesprächsthema Nummer eins musste sich Quentin Tarantinos neuer Streich aber schnell geschlagen geben. Mit „Antichrist“ im Gepäck war Lars von Trier nach einer depressionsbedingten Auszeit wieder nach Cannes zurückgekehrt und lieferte einen Skandal à la carte. Davor hatte er noch bezweifelt, jemals wieder auf dem Regiestuhl Platz nehmen zu können. Dann der Geistesblitz: Wenn die Depression nicht überwunden werden kann, so muss sie eben verfilmt werden. 40 Drehtage lang kämpfte der dänische Schwarzmaler in den Wäldern Nordrhein-Westfalens mit seinen Dämonen und zwang sie vor die Kamera. Und das Resultat schlug ein. Vor einer so verstörten wie kampfgeilen Presseschar sollte von Trier Rechenschaft über den brutalen Film ablegen. Mit der ihm eigenen Bescheidenheit setzte er zum Gegenschlag an: Er sei der wichtigste Filmemacher seiner Zeit und dies der wichtigste Film seiner Karriere. Der Preisregen blieb zwar aus, immerhin aber wurde Charlotte Gainsbourg für ihr Martyrium in von Triers Phantasie artig als beste weibliche Darstellerin ausgezeichnet. Auch nach dem genüsslich zelebrierten Aufruhr in Cannes wird der Film polarisieren, sei es durch die explizite Gewaltdarstellung oder den prätentiösen Inszeniergestus. „Antichrist“ ist ein Panoptikum biblischen Leidens, ein Essay über die Unmöglichkeit von Erlösung - und damit allen Buhrufen zum Trotz verdammt eindringliches Horrorkino.
Sie (Charlotte Gainsbourg, I’m Not There, Lemming, 21 Gramm) und Er (Willem Dafoe, Ein Leben für ein Leben, Platoon) schlafen miteinander. In ihrer Ekstase bemerken sie nicht, dass ihr Sohn auf einen Fenstersims steigt, taumelt - und in die Tiefe stürzt. Monate später wird Sie stationär behandelt. Er aber will seine schwerstdepressive Frau nach Hause holen. Der ruhige Analytiker scheint den Verlust des Kindes verarbeitet zu haben und ist überzeugt, eine effiziente Traumatherapie durchführen zu können. Obgleich Sie ihn als zunehmend arrogant und gleichgültig erlebt, lässt sie sich auf sein Angebot ein. Nicht die eigene Familie therapieren, nicht mit der Patientin schlafen – das sind bald vergessene Grundsätze. Um Sie mit ihren Urängsten zu konfrontieren, reist das Paar tief in die Wälder, zur Hütte „Eden“. Kaum angekommen, entdeckt Er im Unterholz einen sterbenden Fuchs und beobachtet entsetzt, wie das Tier sich selber zerfleischt und die baldige Herrschaft des Chaos prophezeit...
Die Erkenntnis dämmert, noch ehe die erste Filmminute verstrichen ist: „Antichrist“ kennt keine kleinen Gesten. Mit pornographischer Präzision begleitet der Prolog den Akt der Eltern. Pathostriefende Opernuntermalung bläst das kindliche Tapsen gen Fenstersims zum Todesmarsch auf. In körnigem Schwarz-Weiß und Ultra-Slow-Motion wird die Untrennbarkeit von Sexualität und Verderben auf die Leindwand gemalt. Lars von Trier geht in die Vollen – wer hier auf den Realismus seiner Dogma-Vergangenheit („Idioten“) oder den kühlen Minimalismus der unfertigen USA-Trilogie (Dogville, Manderlay, „Wasington“) hofft, bleibt außen vor. Immerhin gilt es, der Hölle selbst ein filmisches Denkmal zu setzen. Dementsprechend extravagant fällt „Antichrist“ auch weiterhin aus, etwa wenn eine spätere Sexszene vor einer monolithischen Baumwurzel samt herausragender Kadaver gleich Hieronymus Bosch in Szene gesetzt wird.
Das von den Waldtieren prophezeite Chaos entfesselt von Trier mit Schreckensbildern, die selbst ein Saw-gestähltes Publikum tief in die Kinosessel treiben dürften. Mit voyeuristischem Torture Porn hat der Film dabei nichts gemein. Von Trier ist kein Sadist, der Qualen zur Bespaßung ausstellt. Hier ist die durchweg sexuell konnotierte Gewalt ein verzweifelter Versuch der Artikulation, ein Bestrafen von Zurückweisung und gleichzeitig ein gnadenloses Klammern. Ein ans Bein montierter Mühlstein soll Ihn bei Ihr halten: „Du wolltest mich verlassen!“ Seine Psychologie entpuppt sich als nutzlose Sammlung hohler Phrasen, ihre offensiven Annäherungsversuche als nicht minder hoffnungslos. Kommunikation gipfelt in Isolation, ehemals Liebende werden zu Bestien. Der Antichrist manifestiert sich im grandiosen Scheitern einer tragfähigen Beziehung zur Außenwelt. Kompromissloser hätte der Däne eine Depressionserfahrung nicht transportieren können.
In den Wäldern unweit von Köln hat von Trier die perfekte Kulisse für sein intimes Inferno gefunden. Ebenso wie Flora und Fauna ist auch die marode Holzhütte „Eden“ in wogenden Nebel getaucht. Eicheln hageln auf das Dach, Blutegel dringen durch offene Fenster ein. Wenn wenige Schritte entfernt ein Vogeljunges aus dem Nest stürzt, sich ein letztes Mal unter herbeiströmenden Ameisen aufbäumt und dann von seiner eigenen Mutter verschlungen wird, reflektiert die Natur den Sündenfall, der für Ihn und Sie irreversibel geworden ist. Adam und Eva haben nach Eden zurückgefunden, das Paradies aber ist auf ewig verloren. Hier wurden bereits Vergleiche zu Werner Herzogs Naturanschauung gezogen, die allerdings reichlich abwegig sind. Bezeichnete der deutsche Star-Autorenfilmer die Wildnis noch als unfertige Schöpfung, voll von Mord und Verderben, betonte er doch auch immer die damit einhergehende Faszination. „Antichrist“ hingegen kennt kein Staunen, bloß eine fürchterliche Angst vor der Omnipräsenz des Chaos.
Angst dürfte von Trier auch vor Frauen haben. Nicht ganz zu Unrecht wurde ihm ungehemmte Misogynie vorgeworfen, ist seine Eva in ihrer Raserei – bis hin zur rituellen Selbstbeschneidung – doch in der Tat ein weiblicher Albtraum. Die Erlösung in letzter Sekunde, die er Emily Watson in „Breaking The Waves“ noch zugestand, bleibt für Charlotte Gainsbourg aus. So problematisch das Frauenbild des Dänen auch sein mag, so gekonnt treibt er die britisch-französische Darstellerin zur berauschenden Höchstleistung an. Mal kataton, mal als entfesselte Furie, ergibt sich die nackte Gainsbourg von Triers Vision und produziert damit einen Horror, an dem sich das versammelte Monsterkabinett der Filmgeschichte die Zähne ausbeißen würde. Ihr Niveau erreicht Willem Dafoe zwar nicht, funktioniert als ruhiger Gegenpol aber dennoch ausgezeichnet. Zumindest, bis auch er das Scheitern der Ratio anerkennen muss und in den Abgrund taumelt, den von Trier aufgestoßen und sichtbar gemacht hat. Der wichtigste Film des wichtigsten Filmemachers ist unverhohlen selbstgefällig, provokant, kontrovers – dank seiner Konsequenz aber auch ein einzigartig intensives Horrorerlebnis.