Eins vorweg: Auch wenn der vierte Spielfilm des Züricher Regisseurs Thomas Imbach von Georg Büchners unvollendeter Novelle „Lenz“ inspiriert worden ist, handelt es sich bei Imbachs Film keineswegs um eine Literaturverfilmung. Der unabhängige Regisseur überträgt zwar einige Gedanken aus Büchners Novelle, hat aber einen eigenständigen Film gemacht, der genau wie Büchners „Lenz“ mehr ein Fragment als ein abgeschlossenes Werk geworden ist. Vielleicht fasst das Insert vor dem Abspann den Inhalt des Films am besten zusammen: „So lebte er hin.“
Lenz (Milan Peschel), ein Berliner Regisseur, sucht eine Inspiration für seinen neuesten Film und fährt deshalb in die Schweiz. Unterwegs erfährt er, dass sein 9-jähriger Sohn Noah (Noah Gsell) in dem Ferienort Zermatt Urlaub macht und besucht ihn entgegen dem Willen seiner Ex-Freundin Nathalie (Barbara Maurer). Gemeinsam mit Noah verbringt er ein paar schöne Tage, mit Ski fahren, Iglu bauen und Schneeballschlachten. Als Nathalie hinzukommt, werden die Dinge komplizierter. Lenz fühlt sich zu seiner alten Liebe hingezogen und mit der Zeit legt auch Nathalie ihre abweisende Art ab. Aber Lenz leidet unter Stimmungsschwankungen, mal ist er glücklich, dann wieder am Boden zerstört. „Was macht man denn mit der ganzen Traurigkeit, wo soll man die denn hin stecken?“, fragt er einen Mann aus dem Dorf. Woher seine immer wieder ausbrechende Traurigkeit kommt, erfährt der Zuschauer allerdings nicht (und womöglich weiß Lenz es selbst auch nicht). Imbach interessiert sich für das Hier und Jetzt, für den schmalen Grat zwischen Normalität und Wahnsinn, auf dem seine Hauptfigur den ganzen Film über balanciert. Nachts geht Lenz manchmal raus, steckt seinen Kopf in eiskaltes Wasser oder spricht von Selbstmord. Das eigentliche Ziel seiner Reise, nämlich die Fertigstellung seines neuen Films, verliert er immer mehr aus den Augen und steigert sich in ein wahnwitziges Projekt, bei dem er einfach sich selbst filmt – ohne eine Geschichte zu erzählen.
Ähnlich wie Georg Büchner es in seiner Novelle umsetzte, nutzt Imbach die kalten Schneelandshaften, um von Lenz’ zerrüttetem Innenleben zu erzählen. Wir sehen Schneestürme, halb zugefrorene Bäche und immer wieder das steil in den Himmel ragende Matterhorn, das Imbach in allen erdenklichen Wetterlagen mit immer neuer Wirkung zeigt. Mal wirkt es wie ein malerisches Stück Natur, dann als wäre es direkt aus der Hölle an die Oberfläche gestoßen – der Berg symbolisiert dieselbe Janusköpfigkeit, die auch Lenz aufzeigt.
Thomas Imbach, der in seinen Filmen und Dokumentationen immer wieder die Grenze zwischen Dokumentation und Fiktion ausgelotet hat, macht „Lenz“ zu einem wilden, überaus erfrischenden Stilexperiment. Relativ lange Plansequenzen wechseln mit hart geschnittenen Passagen, Sprünge im Schnitt und der Einsatz einer Handkamera lassen das Geschehen äußert unmittelbar wirken. Stellenweise erinnert „Lenz“ an die dänischen Dogma-Filme (und wohl nicht umsonst fällt im Film der Name Lars von Triers, auf dessen Anlage zum Psychopatischen ebenfalls aufmerksam gemacht wird). Außerdem pendelt „Lenz“ stets zwischen Inszenierung und Improvisation, was seine erfrischende, innovative Wirkung noch verstärkt. Hervorragend sind in diesem Zusammenhang die Szenen, in denen Lenz mit wirklichen Passanten in Kontakt tritt und der Film für kurze Zeit wahrhaft dokumentarisch wird; ein Pärchen aus Dänemark beispielsweise will mit Lenz bzw. Milan Peschel über den „Mann hinter der Rolle“ sprechen. Lenz sagt es selbst: „Der Film ist ein Dokument.“ Und er spricht von der Distanzlosigkeit, die er in seinem nächsten Film umsetzen will und die Thomas Imbach mit „Lenz“ auf eine außerordentlich intelligente und vielschichtige Art bereits erschaffen hat.
Was viele potentielle Zuschauer abschrecken wird, ist das Fehlen einer abgeschlossenen Dramaturgie. Imbach verzichtet fast völlig auf einen roten Faden, gibt seinem Film kein wirkliches Ende und lässt die Handlung fragmentarisch bleiben. Es ist nicht abwegig, dass Lenz das Alter Ego des Regisseurs sein soll, Hinweise dafür finden sich genug: etwa als Lenz davon spricht, dass es für ihn an der Zeit ist, Filme über sich selbst zu drehen und nicht nur gesellschaftliche Zustände abzubilden. Und auch die Herstellungsweise, mit der Lenz seinen Film realisieren will, ist der Imbachs nicht unähnlich. Lenz verzichtet komplett auf ein Team und auch Imbach hat bei seinem Projekt beinahe alles selbst gemacht: Buch, Kamera, Regie und Schnitt. Büchner hat seinem Lenz ebenfalls eine persönliche Komponente gegeben, zum Beispiel, indem er seinen Protagonisten die eigene anti-idealistische Kunsttheorie aussprechen lässt.
Thomas Imbachs „Lenz“ ist das sperrige, faszinierende Psychogramm eines Mannes, das sich einer klassischen Dramaturgie entzieht und die Geschichte durch Bilder und Situationen erzählt – ohne offene Fragen zu beantworten. Mit dieser Art des Filmemachens können sicherlich die Wenigsten etwas anfangen, und trotzdem – oder gerade deswegen – verdient „Lenz“ das Prädikat „sehenswert“.