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    Jeder schweigt von etwas anderem
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Jeder schweigt von etwas anderem
    Von Christoph Petersen

    „Baut die Mauer wieder auf!“ ist eine häufig gestellte Forderung an gesamtdeutschen Stammtischen. Aber diese mehr als fragwürdige „Früher war alles besser“-Einstellung dürfte geschätzten 200.000 bis 250.000 politischen Häftlingen der DDR als reinste Verhöhnung vorkommen. In ihrem Dokumentarfilm „Jeder schweigt von etwas anderem“ begleiten die Regisseure Marc Bauder und Dörte Franke in drei Episoden ehemalige Gefangene des DDR-Regimes, die von der Bundesrepublik Deutschland freigekauft wurden und so im Westen in Freiheit weiterleben durften. Aber richtig frei ist auch heute keiner von ihnen, zu tief sitzen die alten Wunden, zu viel Unausgesprochenes steht zwischen ihnen und ihren Angehörigen. Dabei gelingt es den Macher diesem oft diskutierten Thema noch unbekannte Facetten abzugewinnen und so dem Zuschauer über gut siebzig Minuten hochinteressante, äußerst kritische und oftmals sogar spannende Unterhaltung zu bieten.

    „Die Menschen in der DDR sind unfrei und die Kinder werden in Heimen zu Kriminellen herangezogen.“ Diese von Anne 1982 im Alter von 25 Jahren getätigte Aussage hat ironische Konsequenzen: Sie kommt wegen Verbreitung von hetzerischen Schriften ins Gefängnis und ihr dreijähriger Sohn ins Heim. Aber die Folgen sind weit weniger lustig, denn auch wenn Anne ein Jahr später freigekauft wird, belastet der Vorfall ihre Familie bis heute. Vor allem ihr Vater, der der DDR weniger systemkritisch als seine Tochter gegenüberstand, kann Annes Aufstand noch immer nicht hundertprozentig gut heißen.

    „Man kann nicht immer die alten Wunden aufreißen, sonst wird man ja gar nicht damit fertig.“ Die Mutter von Utz, der 1975 zu zwei Jahren und drei Monaten Haft wegen Staatsfeindlicher Hetze verurteilt wurde, stand trotz aller psychologischer Tricks der Stasi immer zu ihrem Sohn. Aber sprechen möchte sie über diese schwierige Zeit heute nicht mehr. Utzs Töchtern geht es ähnlich: Sie haben Angst, ihren Vater mit dem Aufwühlen der alten Geschichten zu verletzen und scheuen sich deshalb davor, Fragen zu stellen. In der Mitte steht Utz selbst, für den der politische Widerstand und die Haft noch immer ein wichtiger Teil seines Lebens sind, über den er gerne sprechen würde. Weil er unter seinen Angehörigen aber keine Gesprächspartner findet, hält er Vorträge vor Schulklassen und anderen Interessierten.

    „Ich hatte schöne Jahre vor dem Gefängnis in der DDR, einige goldene Jahre nach dem Gefängnis in der Bundesrepublik Deutschland und ich möchte nicht, dass die Haft als das Thema meines Lebens diskutiert wird.“ Der Aufenthalt im Gefängnis selbst macht nur einen kleinen Teil ihres Lebens aus, trotzdem prägt er sie bis heute. „Jeder schweigt von etwas anderem“ ist gerade deshalb so interessant, weil er den Widerstand seiner Protagonisten nur am Rande erwähnt und sich vielmehr auf die Auswirkungen ihrer Erlebnisse auf ihre heutigen Beziehungen zu Freunden, Angehörigen und sogar Stasispitzeln konzentriert. So ist das Thema nicht die schon sooft durchgekaute Stasipolitik selbst, sondern wie mittlerweile mit ihr umgegangen wird. Die Verhaltensweisen, die der Film dabei in den verschiedenen Episoden einfängt, sind so unterschiedlich und komplex, dass er schier unerschöpfliches Diskussionspotential liefert: Den Kindern der Familie Storck geht das ständige Gerede über die DDR-Zeiten nur noch auf die Nerven, für sie ist das System mit seinem Niedergang endgültig erledigt. Utzs Töchtern hingegen ist es nicht einmal möglich, dieses Thema überhaupt anzuschneiden. So kommt der vielschichtige Film nicht einmal in die Nähe dessen, was man als langatmig bezeichnen könnte.

    Ohne störenden Off-Kommentar oder allzu vielen ablenkenden Einblendungen gelingt es den Regisseuren Marc Bauder und Dörte Franke, dem Zuschauer das komplexe Thema allein durch die geschickte Aneinanderreihung der Interview-Ausschnitte näher zu bringen. Auch die teilweise sehr intimen Bilder, die sie zur Illustration ihrer persönlichen Geschichten gefunden haben, können durchweg überzeugen. So stört auf der inszenatorischen Ebene eigentlich nur die Dokumentarfilm-typische Untermalung mit nervender Fahrstuhlmusik – die aber ironischerweise meist im Fahrstuhl eines Stasiunterlagen-Archivs einsetzt. Mit „Jeder schweigt von etwas anderem“ ist den Machern ein wichtiger Beitrag zu einem gewichtigen Thema gelungen. Dabei ist der Film aber nicht etwa be- oder gar erdrückend geraten, sondern macht im Gegenteil sogar Mut, von den politischen und persönlichen Erfahrungen seiner Protagonisten zu lernen, um in Zukunft vieles besser zu machen.

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