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    Erbsen auf halb 6
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Erbsen auf halb 6
    Von Stefan Ludwig

    Regisseur Lars Büchel („Jetzt oder nie“) liefert mit der Tragikkomödie „Erbsen auf halb sechs“ einen ernstzunehmende Konkurrenten für das mit Lob überschüttete Drama „Jenseits der Stille“ ab. Statt dem gehörlosen Teil der Bevölkerung widmet er sich den Blinden. Dieser Ansatz ließe einen Lehrfilm vermuten, der den Finger erhebt, zur Vorsicht und Bedacht beim Umgang mit Menschen mahnt, die ihr Augenlicht verloren haben. Doch zum Glück weit gefehlt: Mit durchaus selbstironischen Zügen präsentiert Büchel eine Geschichte über die Liebe zweier Blinden, die zwar nicht komplett überzeugen kann, aber da sie nicht zu sehr in romantischen Kitsch abdriftet, den Zuschauer am Ende zufrieden aus dem Saal gehen lässt.

    Der Theater-Regisseur Jakob (Hilmir Snaer Gudnason) wird bei einem Autounfall blind. Er verzweifelt, will sich nicht helfen lassen, glaubt so nicht weiter leben zu können. Doch etwas hält ihn am Leben: Zum einen ist das seine totkranke Mutter in Weißrussland und zum anderen ist das Lily (Fritzi Haberlandt), die ihm helfen will, sich trotz Blindheit in der Welt zurechtzufinden. Lily ist von Geburt an blind und da sie die Welt nie anders wahrgenommen hat, wäre sie für diese Aufgabe die ideale Kandidatin. Zu Beginn erträgt Jakob seine Hilflosigkeit nicht, er weist Lily wiederholt zurück, doch sie bleibt hartnäckig. Als Jakob sich auf die Reise zu seiner Mutter in Weißrussland aufmacht, wird Lily unfreiwillig sein Reisebegleiter, doch schon bald freundet sie sich mit der Rolle an und er verliebt sich in sie, auch wenn er zunächst mit diesem Gefühl nicht richtig umzugehen weiß.

    Während die Story einen ernsten Film vermuten ließe, so ist dieser in Wahrheit mit sehr komischen und teilweise fast sarkastischen Szenen versehen. Da bleibt eine Beschimpfung von Jakob nicht aus, er bezeichnet Lily als „Scheiß-Blinde“, was in anbetracht seiner Situation weniger als angebracht erscheint. Außerdem verknüpft Lars Büchel die Haupthandlung mit einer parallelen Reise des Freundes von Lily und ihrer Mutter, die versuchen, Lily zurückzuholen sowie einer kleinen Geschichte über den ersten Sex von Lilys Schwester, die in jeder Einstellung für Lacher sorgen kann – obgleich sie für die eigentliche Story von keiner Bedeutung ist. Die technische Seite lässt sich als sehr solide bezeichnen, was mit einer furios inszenierten Anfangszene beginnt, wird im Verlauf des Films zu einem gut, aber nicht überragend gefilmten Streifen. Da es sich erst um den zweiten Kinoauftritt von Büchel handelt, lässt sich hier für seine nächsten Filme noch mehr erhoffen. Mag der ein oder andere Abschnitt der Reise etwas unrealistisch und unglaubwürdig erscheinen, so sind solche Mängel mehr als gut ausgeglichen von netter Komik und zum Großteil schönen Dialogen. Zwar sind diese an manchen Stellen etwas zu melancholisch, doch das Gesamtbild wird dadurch kaum getrübt.

    Die Wahl der Schauspieler erweist sich als Glücksgriff, die Hauptdarsteller harmonieren miteinander und deren Gefühle sind ihnen generell abzukaufen. Die beiden noch relativ unverbrauchten Gesichter von Hilmir Snaer Gudnason („Blueprint“) und Fritzi Haberlandt („Liegen lernen“, „Kalt ist der Abendhauch“) machen viel vom Charme des Films aus. Vor allem Fritzi Haberlandt merkt man die intensive Vorbereitung auf die Rolle als Blinde sehr deutlich an. Sie war von einem Blindentrainer in die Welt der Blinden eingeführt worden. Fast nebenbei übernimmt sie im Film auch die Rolle des Trainers von Jakob, so bringt sie ihm beispielsweise bei, sich die Lage des Essen anhand der Uhr zu merken, woher auch der ungewöhnliche Titel kommt. Negativ zu erwähnen sind diverse Klischees, welche der Film etwas unreflektiert präsentiert: Die Menschen in Weißrussland leben alle in äußerst armen Verhältnissen und ihnen ist trotzdem immer eine unglaubliche Zufriedenheit ins Gesicht geschrieben.

    „Erbsen auf halb sechs“ ist eine Tragikkomödie, die sich auf sympathische Weise mit dem Thema Blindheit in unserer Gesellschaft auseinandersetzt. Dabei bleibt sie nicht stets möglichst ernst, was dieses relative Tabuthema angeht, sondern zeigt diese Welt meist mit einem Augenzwinkern. Trotz einiger Schwächen, was die Logik und Glaubwürdigkeit der Geschichte angeht und zum Ende hin, welches in bekannter Dramatik abläuft, werden die meisten Zuschauer ihn vermutlich in guter Erinnerung behalten. Das wird auch nur derjenige nicht, der überhaupt keine Empfänglichkeit für Liebesgeschichten aufweist, doch so jemand wird sich ohnehin nicht freiwillig „Erbsen auf halb sechs“ anschauen.

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