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    Der Aufenthalt
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Der Aufenthalt
    Von Björn Becher

    1983 sollte Frank Beyers Kriegs-Drama „Der Aufenthalt“ als offizieller Beitrag der DDR im Wettbewerb der Berlinale laufen. Doch kurz vor Beginn des Festivals zog die SED-Führung den Film zurück. Der Grund: Die polnische Regierung hatte interveniert. Sie befürchtete, der Film werfe ein schlechtes Licht auf das Land und schüre Vorurteile. In der Retrospektive „Play It Again“ zum 60. Berlinale-Jubiläum, mit der bisherige Meisterwerke der Festivalgeschichte noch einmal gewürdigt werden, findet „Der Aufenthalt“ folglich also keinen Platz. Aber anlässlich der Verleihung des Goldenen Ehrenbären an Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase (Solo für Sunny, Der Bruch, Whisky mit Wodka) bekommt Frank Beyers erschütternder und eindringlicher Film über Schuld und Sühne am Ende des Zweiten Weltkriegs aber dennoch seinen verspäteten und verdienten Festival-Auftritt.

    Der junge Kanonier Mark Niebuhr (Sylvester Groth) gerät nach gerade einmal sechs Monaten bei der Wehrmacht zum Ende der Kämpfe in Polen in Kriegsgefangenschaft. Doch erst jetzt beginnt der wahre Alptraum: Er weiß gar nicht, wie ihm geschieht, als an einem Warschauer Bahnhof eine Frau auf ihn zeigt und er daraufhin in ein polnisches Gefängnis für Schwerverbrecher geworfen wird. Ohne dass er eine Anklage erfährt, soll Mark plötzlich immer und immer wieder seine Biographie aufschreiben und einen SS-Mantel tragen. Gemeinsam mit polnischen Verbrechern, die ihm mit offener Feindschaft begegnen, muss er Trümmergebäude abreißen, wobei ihm die lebensgefährlichen Aufgaben übertragen werden. Als er nach einem Armbruch in eine Zelle mit anderen Deutschen gesteckt wird, bessert sich die Lage nur auf den ersten Blick. Denn auch von den dortigen Insassen wie dem strikt auf militärische Disziplin auch in der Haft bedachten General Eisensteck (Fred Dürren), dem Gestapokommissar Rodloff (Günter Junghans, Schtonk!) oder dem holländischen Auschwitz-Gärtner Jan Beveren (Alexander von Heteren) schlägt ihm nach anfänglicher Freundlichkeit bald nur noch Hass entgegen.

    Frank Beyer gelingt es in seiner Verfilmung des Buches „Der Aufenthalt“, in dem der Schriftsteller Hermann Kant seine eigenen Erlebnisse in der polnischen Kriegsgefangenschaft von 1945 bis 1949 verarbeitet hat, von Anfang an, dem Zuschauer das Schicksal seines Protagonisten Mark Niebuhr sehr nahe zu bringen. Dank der hervorragenden Ausstattung, der exzellenten, aber nie aufdringlichen Kameraarbeit und dem an die körperliche Schmerzgrenze gehenden Spiel von Sylvester Groth (Inglourious Basterds, Mein Führer) ist es, als würde der Zuschauer mit Niebuhr in das dunkle Gefängnis geworfen, in dem er kaum ein Wort versteht und sinnlose Tätigkeiten verrichten muss. In der ersten Filmhälfte geht es vor allem um die schwierige Anpassung an diese neue Umgebung: Niebuhr lernt ein paar Worte polnisch und versucht jeden Befehl schon im Voraus zu erahnen und auszuführen. In diesen Szenen zeigt sich auch, dass der Film weit entfernt ist von anti-polnischer Propaganda. Die Wärter honorieren Niebuhrs Entgegenkommen, der polnische Hauptaufseher (Gustav Lutkiewicz) schustert ihm bei Gelegenheit sogar zusätzliches Obst oder ein besonders großes Stück Fisch zu. Und das, obwohl die Polen glauben, hier einen besonders abscheulichen Verbrecher vor sich zu haben.

    Zu ganz großem Kino wird „Der Aufenthalt“ aber erst mit Marks Verlegung in die „Deutschenzelle“. Der kurzen Freude über die Entlassung aus der Einzelhaft und das Ende des lebensgefährlichen Arbeitsdienstes folgt bald die Ernüchterung. Die wahren Verbrecher sitzen hier, doch diese streiten es mit es einer unglaublichen Hartnäckigkeit und höchst perfider Argumentation ab. Während Mark ein Opfer einer Verwechslung ist, spielen alle anderen ihre Beteiligung an den Naziverbrechen herunter. Die juristisch gebildeten Generäle diskutieren mit erschreckender Selbstherrlichkeit, warum eine Geiselerschießung natürlich kein Verbrechen sei. Auch der Holländer Beveren ist sich keiner Schuld bewusst, er sei in Ausschwitz doch nur für die Tulpen zuständig gewesen. Vielmehr sei es ein Verbrechen an ihm, dass ihn seine Landsleute an die Polen übergeben haben. Ein Gasmann (Horst Hierner) argumentiert, dass der Jude, den er getötet hat, doch sowieso von einem Gericht zum Tode verurteilt worden wäre. Ihnen allen ist der Neue, der keine Tat zu leugnen hat, sofort ein Dorn im Auge. Das Leben in dieser Zelle, das durch die bis in die kleinsten Parts hervorragenden Darsteller bittere Prägnanz und eine erschreckende Eigendynamik erhält, wird von Beyer zu einem Mikrokosmos verdichtet, in dem die faschistischen Ideale hochgehalten werden, ganz als hätte es das Kriegsende nie gegeben.

    Eine besonders eindringliche Figur ist der Obergefreite Fenske (Hans-Uwe Bauer, Das Leben der Anderen), der zu Marks einziger Bezugsperson in der Zelle wird, da auch er scheinbar das Opfer einer Verwechslung geworden ist. Bis sich seine wahre Rolle offenbart… Und auch Mark Niebuhr muss sich im Fortlauf der Handlung die Teilschuld eines jeden Soldaten eingestehen. Beyer verdeutlicht also nicht nur die Kontinuität des faschistischen Gedankenguts, sondern benennt auch die Verantwortung jedes einzelnen, deren Erkenntnis erst die Überwindung der Vergangenheit ermöglicht.

    Fazit: Frank Beyers „Der Aufenthalt“ ist ein Antikriegsfilmklassiker. Der Regisseur verlässt sich ganz auf die Kraft seiner Geschichte und auf die bedrückende Atmosphäre seines Handlungsortes. Gerade die zurückhaltende Inszenierung macht den Film zu einem exzellenten Beitrag zum Thema „Schuld im 2. Weltkrieg“, der mit seiner klaren antifaschistischen Aussage auch heute noch aktuell ist.

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