Dass all die großen Event-Kracher in der Regel arg risikoscheu daherkommen, mag mit Blick auf die horrenden Produktionskosten nachvollziehbar sein - schade ist es trotzdem. Umso erfreulicher, dass die Titanen des Blockbuster-Kinos hier und da noch Zeit finden, eigensinnigen Nachwuchs zu fördern. So geschehen beispielsweise im Fall von District 9: Unter der Schirmherrschaft von Produzent Peter Jackson realisierte Neill Blomkamp mit seinem wüsten Science-Fiction-Trip einen der größten Kritikererfolge des vergangenen Jahres. Als Talentscout mit besonders scharfem Blick darf auch Tim Burton gelten. Zuletzt überzeugte sein ehemaliger Schützling Henry Selick mit Coraline auf ganzer Linie. Nun ist Special-Effects-Guru Shane Acker (Die Rückkehr des Königs) an der Reihe. Dessen oscarnominierter Stop-Motion-Kurzfilm „9“ gefiel Burton so gut, dass er eine CGI-Langfilmfassung orchestrierte. Und es hat sich gelohnt: In puncto Handlung und Figurenzeichnung kommt „#9“ zwar eindimensional daher, dafür aber marschiert Acker mutig über die Konventionen des Animationsfilms hinweg und entfesselt ein düsteres Symbol- und Zeichengewitter zwischen Dystopie und Schöpfungsmythos.
Als die Mecha-Puppe 9 in einer zwielichtigen Kammer zum ersten Mal ihre Augen öffnet, erlebt sie ein Geburtstrauma der besonders heftigen Art: Begraben unter mit mysteriösen Zeichnungen vollgekritzelten Blättern liegt vor ihm ein Leichnam. Der Blick aus dem Fenster offenbart eine verwüstete Metropole. Und wer oder was zur Hölle 9 eigentlich ist, scheint verloren im Nebel einer verstummten Vergangenheit. Auf einem Erkundungsstreifzug durch die Ruinen trifft der kleine Kerl auf den offenbar artverwandten 2, nur um zu erleben, wie sein neuer Freund wenige Sekunden später von einer rasenden Stahlbestie mit feurig-roten Augen entführt wird. Auf der Flucht begegnet 9 weiteren Überlebenden und ihrem Anführer 1, der seine Herde furchtsam im Untergrund einpfercht. Doch damit will der Neuankömmling sich nicht abfinden. Gemeinsam mit dem einäugigen 5 und der flinken 7 nimmt er den Kampf gegen die geheimnisvollen Teufelsmaschinen auf...
Wie komplex abstrakt animierte Figuren sein können, haben die Pixar-Studios immer wieder eindrucksvoll unter Beweis gestellt - vor allem mit dem kauzig-liebenswürdigen Rentner Carl aus Oben. Dieses emotionale Niveau erreicht Acker zu keinem Zeitpunkt. In Verbindung mit dem sensiblen Voice-Acting von Elijah Wood (Der Herr der Ringe - Trilogie), Jennifer Connelly (Requiem For A Dream), Christopher Plummer (Das Kabinett des Dr. Parnassus) und Crispin Glover (Alice im Wunderland) ist die rudimentäre Mimik der Puppen aber durchaus tauglich, Sympathien für die kleinen Gesellen zu wecken. Acker versucht ohnehin nicht, im Pixar-Revier zu wildern: Seine künstlerische Vision zielt vielmehr auf den Metatext des einfach gestrickten Gut-gegen-Böse-Märchens ab.
Mit seiner überwältigenden Masse an tiefgründigen Designs ist „#9“ der vielleicht bis dato existenzialistischste Animationsfilm. Jede Begegnung und jeder Schauplatz wirft neue Fragen auf, verweist auf neue dystopische und mythologische Kontexte. Im Mittelpunkt steht dabei die Suche nach dem Schöpfergott, der hier in zwei Inkarnationen auftritt: Einmal als Wissenschaftler, der die Puppen baut, und einmal als mit martialischen Symbolen ausstaffiertes Fascho-System, das eine neue Generation kriegerischer Supermaschinen entwickelt. Was die dann anstellen, dürfte jedem klar sein, der Terminator oder Matrix gesehen hat.
Ohne falsche Scheu verweist „#9“ direkt auf die Genesis, wenn Puppe und Terrormaschine gleichermaßen als Kreationen im Ebenbild ihres jeweiligen Schöpfers benannt werden. Bis 9 und seine Freunde erfahren, weshalb ihr Erschaffer ihnen Leben eingehaucht hat, muss jedoch reichlich Historikerarbeit verrichtet werden, etwa in einer großen Bibliothek. Die wird von zwei stummen Zwillingspuppen bewohnt, die wie Astronomen auftreten - bloß dass ihre Sternenwarte nicht länger ins dunkle Meer der Sterne, sondern in das der Geschichte blickt. Es gilt, Hieroglyphen zu enträtseln und - im Anklang an die jüdisch-kabbalistische Lehre - fehlende Buchstaben im Alphabet des Schöpfers aufzudecken.
Wahrhaft abgründig fällt dann die Konfrontation mit den Maschinen aus. Eine Kreatur, ein Seelenjäger, ragt als Perversion zwischen Medusa, Skorpion und Terminator-Skelett über den panischen Puppen auf. Um dem Maschinengott, einem auf Stahltentakeln tänzelnden Auge, das diabolische Handwerk zu legen, muss 9s Gemeinschaft bis in die Tiefen von Dantes Inferno vordringen - in der Acker-Variante als ästhetischer Wirbel durch Steampunk, Gothic und Industrial interpretiert. „#9“ entfaltet Bilder, die im Vergleich mit kraftlosen Endzeit-Anläufen à la Terminator: Die Erlösung um Längen verstörender wirkten, wären sie nicht in eine niedliche Animationsoptik verpackt. „#9“ ist aufgrund dieses Umstandes und trotz seiner schlichten Handlung meilenweit davon entfernt, ein Kinderfilm zu sein. Dass Acker seine düster-hintersinnige Erzählung kompromisslos und ohne Studiokalkül umsetzen durfte - dafür gebührt einem Förderer wie Tim Burton aufrichtiger Dank!