Wenn Helen Mirren und Christopher Plummer in Michael Hoffmans Literaturverfilmung „Ein russischer Sommer“ die Liebesrituale des alten Ehepaars Tolstoi zum Besten geben, sich als Huhn und Hahn in Gurren und Krähen ergehen, dann zeigt sich in dieser Verführungsszene exemplarisch die Widersprüchlichkeit und Unausgegorenheit des insgesamt misslungenen Dramas. Die beiden Schauspielveteranen schrecken vor keiner dick aufgetragenen Geste zurück, der Effekt liegt irgendwo zwischen lächerlich und rührend. Die gesamte erste Filmhälfte würde mit ihren übertriebenen Figuren und ihren banal zugespitzten Konflikten jeder Seifenoper zur Ehre gereichen und besitzt mit ihrem extravaganten Tonfall durchaus einen gewissen Kuriositätenwert. Im späteren Verlauf des Films besinnt sich Hoffman dann zunehmend auf die Konventionen der respektablen Leinwandbiographie, mit der nun fast weihevollen Ernsthaftigkeit geht allerdings auch eine deutlich spürbare Langatmigkeit einher. Eine runde Sache sieht anders aus, es sind daher die Missverhältnisse und Brüche, die „Ein russischer Sommer“ zumindest interessant machen.
Der junge Idealist Walentin Bulgakow (James McAvoy) wird im Jahr 1910 von Wladimir Tschertkow (Paul Giamatti), einem engen Vertrauten von Leo Tolstoi (Christopher Plummer), als neuer Sekretär des Schriftstellers engagiert und auf dessen Landgut geschickt. Tschertkow will erreichen, dass der berühmte Autor die Rechte an seinen Werken dem russischen Volk vermacht, während Tolstois Ehefrau Sofia (Helen Mirren), die „Krieg und Frieden“ sechs Mal eigenhändig abgeschrieben hat, sich um die Zukunft ihrer Familie sorgt und das Erbe für sie beansprucht. Bulgakow soll die Aktivitäten der Gattin für die Tolstoianer um Tschertkow ausspionieren und gerät schnell zwischen die Fronten eines erbitterten Streits. Und auch seine hehren Grundsätze in Sachen Enthaltsamkeit werden in Gestalt der lebensfrohen Mascha (Kerry Condon, Unleashed, Die Asche meiner Mutter) erschüttert...
Leo Tolstoi war längst ein weltbekannter Romanschriftsteller, als er in seinen letzten Jahren immer mehr zum Verfechter einer religiös unterfütterten Lehre der Gewaltlosigkeit und Nächstenliebe wurde. Seine Ideen wurden im zaristischen Russland zum Gegenstand eines regelrechten Kults, seine Anhänger nannten sich Tolstoianer. Die Pazifisten lebten in Landkommunen, aßen kein Fleisch und verzichteten auf Sex. Die anarchische Komponente des Gedankenguts wird naheliegenderweise immer wieder mit den Revolutionen von 1905 und 1917 in Verbindung gebracht, die gesellschaftspolitische und weltgeschichtliche Dimension dieser Thematik wird von Michael Hoffman, der auch das Drehbuch verfasste, allerdings vernachlässigt. Da werden einmal zaristische Spitzel erwähnt, aber der Kontext bleibt unterbelichtet. Und wenn der berühmte Schriftsteller und reiche Grundbesitzer am Ende stirbt, dann zeigt die Landbevölkerung ergeben Mitgefühl für die Frau Gräfin.
Zugegebenermaßen liegt Hoffmans Augenmerk nicht auf der übergreifenden Perspektive, sondern auf der persönlichen Ebene, aber die Einebnung von Jay Parinis multiperspektivischer Romanvorlage führt zu einer extremen thematischen Verflachung. Der sich an der Seite des Genies über Jahrzehnte aufopfernden Ehefrau steht als Kontrahent um das Erbe ein intriganter Schleimbeutel gegenüber, dem die Boshaftigkeit in den Schnurrbart gezwirbelt ist. Keine Sekunde wird darauf verschwendet, Tschertkow für sein Ansinnen, die Werke seines Idols dem Volk zu vermachen, etwas anderes als rein egoistische Motive zu geben. Paul Giamatti (American Splendor, Sideways, Shoot 'Em Up) unterstreicht das noch durch seine die Grenze zur Karikatur streifende eindimensionale Darstellung. Da auch Tolstois Haltung zu Fragen des Besitzes und seine Zuneigung zu Tschertkow nicht wirklich klar werden, haben wir es letztlich mit einem etwas wunderlichen alten Mann, seiner fast hysterischen Frau und einem berechnenden Speichellecker zu tun.
Mitten durch die mit breitesten Akzenten inszenierten Intrigen und Ehezwistigkeiten stolpert mit weit aufgerissenen Augen der naive Jüngling Bulgakow. Auch James McAvoy (Der letzte König von Schottland, Abbitte, Wanted) geht in seiner Darstellung in die Vollen. Wenn er Tolstoi zum ersten Mal persönlich begegnet, fehlt nicht viel zum Ohnmachtsanfall, und bei seiner Wandlung vom weltfremden Abstinenzler zum liebestollen Zweifler wäre Overacting ein Understatement. Auch Helen Mirren (Excalibur, State Of Play) gibt in dieser Phase den von ihr in The Queen so meisterlich demonstrierten Kampf um die Selbstbeherrschung auf und lässt es bei diversen Wutanfällen und Nervenzusammenbrüchen ordentlich krachen. Diese gewollt überlebensgroßen Darstellungen nach dem Motto „Je mehr, desto besser“ haben in Verbindung mit den ähnlich überspitzten Dialogen fast den Reiz eines Trash-Vergnügens. Besonders die intimen Szenen geraten immer wieder zu Gratwanderungen zwischen peinlicher Übertreibung und entwaffnender Unmissverständlichkeit.
Hätte Hoffman, dem bisher ohnehin die leichte Kost („Tage wie dieser...“) besser gelang als das historische Drama („Restoration – Zeit der Sinnlichkeit“), diesen etwas unbeholfen wirkenden, aber unprätentiösen Weg beibehalten, dann hätte der hauptsächlich in Brandenburg gedrehte Film mit seinen optischen und akustischen Attraktionen (Ausstattung, Kostüme und Musik erreichen allesamt gehobenes Historienkino-Niveau) womöglich das Zeug zu einem wirklich originellen Genreibeitrag gehabt. Christopher Plummer (The Sound Of Music, Insider, Das Kabinett des Dr. Parnassus) bringt als etwas kauziger, aber unzweifelhaft charismatischer Mann im Zentrum des Interesses dazu eine wohltuende Prise ironischer Distanz zum Ausdruck. Aber spätestens wenn der kranke Tolstoi seine letzte Reise abbrechen muss und alle Welt auf den Tod des Autors wartet, dann kann sich der Regisseur die Feierlichkeit nicht verkneifen und nimmt seinen Film wichtig. Und das steht ihm nicht allzu gut zu Gesicht.