„Ich bin ein Soldat des Kinos.“ - so hat sich der deutsche Autorenfilmer Werner Herzog selber einmal charakterisiert. Für ihn zählt nur, was am Ende auf der Leinwand zu sehen ist. Die Produktionsstrapazen monumentaler Unternehmen wie Fitzcarraldo oder Aguirre – Der Zorn Gottes klammert er gerne aus. So sehr Herzog bei der Realisierung seiner Projekte für eiserne Konsequenz steht, so unglaubwürdig ist seine Tiefstapelei in dieser Hinsicht. Immerhin gestattete er seinem Freund Les Blank, den Arbeiten an „Fitzcarraldo“ mit Burden Of Dreams ein faszinierendes Denkmal zu setzen. Die abenteuerlichen Geschichten hinter seinen Filmen sind essentieller Bestandteil des Mythos Herzog - ob er es will, oder nicht. Dass der gebürtige Münchener seinem Ruf inzwischen gelassener gegenübersteht, hat er mit seinem wunderbar selbstironischen Auftritt in Zak Penns Incident At Loch Ness bewiesen: Kein Herzog-Film ohne eine Produktionsgeschichte, die zwingend Teil des Gesamtwerkes ist. Auf „Herz aus Glas“, einem der weniger beachteten Einträge seiner Filmographie, trifft das auch ohne über Berge gewuchtete Flussdampfer zu. Der Film steht den großen Meisterwerken höchstens in puncto Opulenz nach, überzeugt durch stilistische Extravaganz und erzählerische Dichte ansonsten genauso auf ganzer Linie. Vor der Kulisse des bayerischen Hinterlandes gelingt Herzog mit einer unter Hypnose agierenden Darstellerriege die Visualisierung seiner Leitmotive - des großen Scheiterns, des wahnhaften Deliriums und der Last der Träume – mit einer Präzision, die auch ein irrlichternder Kinski nicht hätte intensivieren können.
Von apokalyptischen Visionen verfolgt, sitzt der Hirte Hias (Josef Bierbichler, Woyzeck, Der Architekt, Im Winter ein Jahr) auf einer Bergkette und lässt den Blick in die Ferne schweifen. Er sieht in die Tiefe stürzende Wassermassen, fühlt sich mit ihnen herabgerissen. Er erlebt Untergang und Neuanfang, sieht Atlantis versinken und wieder aufgehen. Und er sieht das Tal zu seinen Füßen, in dem alles seinen Anfang nimmt. Dort, in einem vorindustriellen Dorf irgendwo in Bayern, ist der lokale Glasbläser verstorben und hat das Rezept seines Rubinglases mit ins Grab genommen. Ihrer wirtschaftlichen Grundlage beraubt, versinkt die Bevölkerung in Armut und katatone Starre. Der adelige Glashüttenbesitzer (Stefan Güttler) verlangt nach Hias, in dessen prophetischer Gabe er die letzte Möglichkeit sieht, dem Toten sein Geheimnis zu entreißen. Als der Seher sich ihm aber verweigert, legt der irrsinnige Adelsmann ein Feuer in der Glashütte. Aller Klarsicht beraubt, machen die Dörfler den Propheten für das Desaster verantwortlich. Doch Hias kann fliehen. Fast selbst schon dem Wahn verfallen, weist ihm eine letzte Vision den Weg in die Zukunft...
„Über Nacht geht das große Weltabräumen los.“
Hias, der Prophet
Mit seinem bayerischen Schauplatz ist „Herz aus Glas“ eine Beschwörung früher Kindheitserfahrungen und somit eine der intimsten Arbeiten Herzogs. Gedreht wurde überwiegend in einer Region unweit von Sachrang, dem Bergdorf, in dem der 1942 geborene Filmemacher seine Kindheit verbrachte. Die vagen Eindrücke des im Zweiten Weltkrieg bombardierten und von Sachrang aus noch sichtbaren Rosenheim erwachen mit der brennenden Glashütte zu neuem, unwirklichem Leben. Doch die Reproduktion eschatologischer Stimmung erschöpft sich nicht im impliziten Verweis auf die Kriegsjahre. Vielmehr geht es Herzog um universelle Eindrücke und um Menschen, die sehenden Auges auf die Katastrophe zusteuern. Parallelen zu Herzog’schen Archetypen wie Don Lope de Aguirre, dessen fiebergepeitschte Jagd nach dem Aztekengold im entrückten Verlangen nach dem Rubinglas ihre unheilvolle Fortsetzung erfährt, liegen auf der Hand. Eine historische oder geographische Einordnung ist „Herz aus Glas“ fremd, da das deutsche Setting bewusst mit ausländischen Naturimpressionen konterkariert wird. Der Epilog entstand vor der irischen Küste, andere Bilder fand Herzog im Monument Valley oder dem Yellowstone Park im Westen der USA. Frei deklariert er die Landschaften zu einem geisterhaften Bayern-Panorama. Die elegische Musik Florian Frickes trägt, wie auch in vielen anderen Herzog-Produktionen, maßgeblich zur intensiven Wirkkraft der Bilder bei. Selten war seine programmatische Suche nach ekstatischer Wahrheit greifbarer als in diesen betörend-anachronistischen Collagen.
„So ist fast alles von mir entstanden: Dass auf einmal ein Schauplatz anfängt, Leben zu kriegen, und dass erst der Schauplatz ist und dann die Personen und die Geschichte.“
Werner Herzog [1]
Trance ist auch über die Umdeutung wilder Landschaften hinaus das zentrale Stilmittel von „Herz aus Glas“. Einmal mehr ist es ein besonders extravaganter Regie-Einfall, der den Transfer von Herzogs Vision auf die Leinwand ermöglicht. Mit Ausnahme Bierbichlers stand die gesamte Besetzung, überwiegend Laien, unter Hypnose vor der Kamera. Ein Großteil der Dialogsequenzen wurde improvisiert, das Drehbuch diente dabei lediglich als Richtungsangabe. Doch das Resultat ist keineswegs willkürlich, sondern von erstaunlicher Poesie. Etwa, wenn das Dienstmädchen (Sonja Skiba) des Hüttenbesitzers behutsam über die letzten verbliebenen Rubingläser tastet, und im Flüsterton von ihrer Halluzination einer zur Gänze aus dem fragilen Material erbauten Traumstadt raunt. Bierbichlers Hias erlebt derweil mit seinen Prophezeiungen eine ganz eigene Ekstase. Majestätisch thront der Seher auf den wilden Bergrücken und steht dort vorerst noch seelisch und physisch über dem Wahn des Dorfes. Sein Blick ist nicht verklärt, sondern in eine Ferne gerichtet, die vom Tal aus bloße Ahnung bleiben muss. Von Gemälden Caspar David Friedrichs inspiriert, findet Herzog sowohl eine meditative Bildsprache zur schwierigen Visualisierung der Perspektive eines Propheten, als auch einen starken Kontrast zur Atmosphäre kollektiven Deliriums, die mit konventioneller Darstellerführung vielleicht kaum umsetzbar gewesen wäre.
„I wondered, how I could stylize everyone who, almost like sleepwalkers with open eyes, as if in a trance, were walking into this foreseeable disaster.”
Werner Herzog [2]
Außergewöhnlich für Herzog’sche Verhältnisse ist auch, dass „Herz aus Glas“ auf einem fremden Drehbuch basiert. Später, nach dem künstlerisch zu heterogenen Schrei aus Stein, verwarf der Autorenfilmer diese selten genutzte Option wieder. Doch hier war das Wagnis überschaubar. Das Buch aus der Feder seines Kollegen Herbert Achternbusch kommt dem Regisseur, der sich explizit als bayerischer Filmemacher versteht, mit der Interpretation einer bavarischen Volkssage geradezu entgegen. Durch den Einfluss des Linken Achternbusch gewinnt der Film mit der Ergründung ländlicher Armut und dem Wahn als Folgeerscheinung zusammenbrechender Wirtschaftssysteme zwar einen für Herzog untypischen kapitalismuskritischen Aspekt. „Herz aus Glas“ ist dennoch weit davon entfernt, ein politischer Film zu sein. Hias’ letzte Vision, die den Ausbruch aus dem vormodernen, alchemischen Weltbild andeutet, trägt inhaltlich eindeutig Herzogs Handschrift und versucht sich nicht an sozialen Themen, sondern einer Verortung des Menschen in der Weite von Welt und All. Ein Mann steht auf einer Insel am Rande einer Felsenklippe. „Er ist der erste, der zweifelt“, prophezeit Hias. Mit der Zeit gesellen sich drei weitere hinzu; dann besteigen sie ein Boot und rudern ins Ungewisse. Liegt am Horizont, am Ende der vermeintlich scheibenförmigen Welt, wirklich ein Abgrund?
„Es mochte ihnen wie ein Zeichen von Hoffnung scheinen,
dass die Vögel ihnen aufs offene Meer hinaus folgten.“
Epilog von „Herz aus Glas“
Trotz – oder auch aufgrund - des Untergangs tradierter Strukturen ist das stille Finale eine zwar konjunktivisch verklausulierte, aber doch greifbare Andeutung von Hoffnung. Der Mensch, der beschließt, die winzige Insel des Altbekannten zu verlassen und sich mit dem Fremden, dem Bedrohlichen, zu konfrontieren, blickt zugleich auch der Dämmerung einer neuen Ordnung entgegen. Ob sich Hias’ Vision des aus den Fluten zurückkehrenden Atlantis erfüllen wird, und was die Männer auf ihrer Reise ins Ungewisse finden, bleibt offen. Mit dieser gewagten Konklusion entlässt „Herz aus Glas“ aus einem symbolstarken Filmerlebnis, das vor allem dank Herzogs Fähigkeit, hyperrealistische Bilder mythisch aufzuladen, begeistert. Das stilistische Wagnis einer hypnotisierten Darstellerriege zahlt sich voll aus und sorgt für Augenblicke zwischen grotesker Komik und verstörender Apathie. Von der ursprünglichen Idee, sein Publikum via instruktivem Vorspann gleich mit zu hypnotisieren, hat Herzog letztendlich zwar abgesehen, seine eigentümliche Version eines Heimatfilms hallt aber auch ohne diese weitere Extravaganz lange nach.
[1] Beat Presser: Werner Herzog, jovis Verlag 2002
[2] Paul Cronin: Herzog on Herzog, Faber and Faber 2002