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    Die Ausreißer
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Die Ausreißer
    Von Björn Becher

    „Ausreißer“ heißt einer der bekanntesten und erfolgreichsten deutschen Kurzfilme der vergangenen Jahre. Bei den Oscars 2006 brachte er Regisseurin Ulrike Grote eine Nominierung ein. Aufgrund dieses Bekanntheitsgrades eignet er sich natürlich perfekt dafür, gleichzeitig krönender Abschlussfilm und Titelgeber für eine Kurzfilmkompilation zu sein. „Die Ausreißer“ erzählt von jungen Helden, sechs kleinen Jungen, die alle so ihre Probleme (oft auch auf kommunikativer Ebene) mit der Erwachsenenwelt haben und dabei doch schon selbst bereit sind, die Welt zu erobern. Wie bei Kurzfilmkompilationen üblich, kann auch „Die Ausreißer“ kein durchweg ganz hohes Niveau halten, verwunderlicher ist allerdings, dass nicht Ulrike Grotes Werk heraus sticht, sondern ein anderes, kleines feines Meisterwerk.

    Dies steht gleich am Anfang des Programms. „Vincent“ von Giulio Ricciarelli ist Kurzfilm in Perfektion. Ohne in die dem Genre leider manchmal anhaftende, verkopfte Kunst-Herangehensweise zu verfallen, erzählt er mit viel Charme und Witz die Geschichte des kleinen Vincent (Konstantinos Batsaras) und dessen Kampf gegen die Tücken von Erwachsenenaussagen. Vincent sitzt nämlich erst dem Irrglauben auf, dass Erwachsene die Wahrheit sagen. So lassen die Aussagen von seiner Mutter zum Tod der Oma („Die, die er liebt, holt der Herr im Schlaf“) und des Pfarrers zu ihm („Gott liebt dich und wird sich um dich kümmern“) für Vincent nur einen Schluss zu: Nie mehr schlafen, denn damit begibt er sich in akute Lebensgefahr. Auf mehreren Festivals mit großem Erfolg gelaufen und oftmals ein begeistertes Publikum hinterlassend, hat „Vincent“ viel mehr zu bieten als die großen, herzerweichenden Kulleraugen des Hauptdarsteller Konstantinos Batsaras und die beeindruckend exzellente Stimme von Jungschauspieler Jonathan Beck (Die wilden Kerle), der die Off-Stimme von Vincent übernimmt und das Talent von seinem Vater Rufus Beck (Schauspieler und preisgekrönter Hörbuch-Sprecher) in die Wiege gelegt bekam. Viel mehr beeindruckt, wie Regisseur Ricciarelli die einfache Idee seiner Geschichte so wunderbar erzählt, dabei auch nicht mit einem augenzwinkernden, ganz leicht ins surreale driftenden Ende geizt.

    Da muss mit „Triumph des Nichtschwimmers“ zwangsweigerlich ein Qualitätsabfall folgen. Doch Martin Dolejs kurzer Abriss mit zwei Schwimmerfahrungen eines aus der CSSR nach Deutschland emigrierten Jungen (Kristian Borisow) weiß trotz kleiner Schwächen zu unterhalten. In nicht einmal sieben Minuten gelingt es ihm, Sprachprobleme bei der Integration, Schwächen des deutschen Schulsportsystems im Jahre 1980 und vor allem den größten Triumph eines Jungen, den aber niemand bemerkt, zu schildern. Trotz aller Traurigkeit des Endes muss man Schmunzeln.

    Beim Schmunzeln erwischt man sich bei „Marco und der Wolf“ von Kilian von Keyserlingk sicher erst einmal nicht. Regisseur von Keyserlingk greift die düstere Stimmung von Märchen auf, was er schon mit dem in dieser Hinsicht beeindruckenden Vorspann unterstreicht. Der kleine Marco (Daniele Götz), ein großer Märchenfan, sieht sich in einem Nachtzug einem Mann (Christoph Ehlers) gegenüber, den er für den Wolf hält. Als Marcos Schwester Andrea (Theresa-Sophie Scholz) verschwunden ist, gibt es für Marco nur eine Möglichkeit: Der Wolf muss sie gefressen haben. Das Spiel mit den Märchengeschichten klappt exzellent. Auch ist „Marco und der Wolf“ ein erstklassig inszenierter Film, der durch ein gutes Timing und starke Darsteller besticht. Allerdings ist der Film durch seine düstere Bildsprache und einige surreale Szenen nicht unbedingt leicht verdaulich für Kinder. Dazu passt auch, dass „Marco und der Wolf“ Gewinner des „Shocking Short Awards 2005“ ist, einem jährlich vom Pay-TV-Sender 13th Street veranstaltetem Kurzfilmpreis. Zudem hinterlässt das Ende, in welchem der Fokus unnötigerweise noch etwas stärker auf das Thema „Kindesmissbrauch“ geschwenkt wird, damit einen leicht faden Beigeschmack.

    Deutlich verträglicher für die Kleinen ist da trotz einiger deplatziert wirkender unheimlicher Flüsterstimmen wieder „Remember“, eine phasenweise allerdings etwas langatmige Geschichte über die Erwartungen an die große Liebe, die ein Filmstar ist. Die kann sich nämlich als ganz anders als auf der Leinwand herausstellen, vor allem wenn ein paar Jahre vergangen sind, seit der Film gedreht wurde. Dagmar Seumes (unter anderem Regieassistenz bei „Herz“ von Horst Johann Sczerba) Regiedebüt leidet unter seiner Klammer, in welcher zwar ein erstklassiger Schauspieler wie Sebastian Koch (Das Leben der Anderen) zum Einsatz kommt, die sich aber nicht ganz in das Gesamtwerk einfügen will. Vielmehr wirkt das Ganze dadurch unnötig gekünstelt und mit einem unpassenden Kunstanspruch versehen.

    In solche Fallen tappt Tonguc Baykurt bei seinem schon 2000 entstandenen Debüt „Jan-Yusuf“ glücklicherweise nicht. Stattdessen erzählt er mit viel Humor und dem ein oder anderen Augenzwinkern die Geschichte eines Jungen aus einer deutsch-türkischen Familie dessen Beschneidung bevorsteht. Der Junge will sie nicht, der türkische Vater ist der Meinung, dass ihn das erst zum Mann macht und besteht auf der Tradition, die deutsche Mutter scheint mit ihrem Widerstand chancenlos und die Oma aus der Türkei hat sich zum feierlichen Ereignis schon angekündigt. „Jan-Yusuf“ bleibt glücklicherweise frei von Klischees und unnötigen Schwarz-Weiß-Zeichnungen. Wie schon bei „Vincent“ ist ein Garant für das Gelingen des Films ein glänzend besetzter Kinderdarsteller Ibo Süyün.

    Den Abschluss der Kompilation liefert schließlich der titelgebende „Ausreißer“, Ulrike Grotes Kurzfilm über einen Mann (Peter Jordan), der sich plötzlich von einem Jungen (Maximilian Werner) verfolgt sieht, der behauptet, er sei sein Sohn. Nach und nach wächst Kinderhasser Walter der Junge, dessen Mutter spurlos verschwunden zu sein scheint, ans Herz, bis er eine schreckliche Entdeckung macht. Oftmals ist ein völliger Stilbruch in der Mitte eines Films so schwer zu verdauen, dass er dem ganzen Werk schadet. Ulrike Grote riskiert so einen Stilbruch, in dem aus der heiteren und amüsanten ersten Hälfte plötzlich ein Drama mit Mystery-Elementen wird. Doch der Wechsel gelingt trotz kleinerer Gewöhnungsschwierigkeiten beim Zuschauer und in der Gesamtbetrachtung erweist er sich als Glücksfall, bekommt man doch so einen hoch interessanten Film zu sehen, den es auch mehrmals zu schauen lohnt.

    Summa summarum ist „Die Ausreißer“ eine überzeugende Kurzfilmkompilation trotz kleiner Schwächen bei den mittleren Filmen. Abgesehen von „Marco und der Wolf“ sowie mit Abstrichen „Remember“ sind die Filme auch sehr gut für das kleinere Publikum geeignet. Kurzfilmfans werden aber wohl nicht allzu viel Neues erblicken. Da die Filme größtenteils schon etwas älter sind, hat man als Genrefan den ein oder anderen auch schon jenseits von Festivals gesehen. So lief zum Beispiel ein Teil der Filme schon im Rahmen der wöchentlichen ARTE-Sendung „KurzSchluss“.

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