Als Michael Powells Psychothriller „Augen der Angst" (im Original: „Peeping Tom") 1960 in die Kinos kam, führte der Film zu einem großen Skandal, der sowohl die Weltkarrieren von Powell als auch von Hauptdarsteller Karlheinz Böhm abrupt beendete. Weder die Kritik noch das Publikum waren auf einen Film vorbereitet, der seine Zuschauer dazu zwang, sich mit einem Voyeur zu identifizieren, der zugleich auch noch ein psychopathischer Serienmörder ist.
„Augen der Angst" zeigt das Leben des Kameramann und Fotografen Mark, der ein oberflächlich freundlicher, aber kontaktscheuer Einzelgänger ist. Mark arbeitet beim Film und lichtet nebenher Models für billige Pornohefte ab. Einen Großteil seiner Freizeit verbringt er in seinem privaten Foto- und Filmstudio, wo er allerdings an einem etwas anderen Projekt arbeitet. Denn Mark ist auch ein heimlicher Frauenmörder, der das Stativ seiner Kamera mittels eines Handgriffs in eine tödliche Waffe umfunktioniert. Dann filmt er das Entsetzen, das sich im Moment der Todeserkenntnis auf den Gesichtern seiner Opfer zeigt. Und genau dieses Bild sehen auch sie selbst auf einem an der Kamera angebrachten, halbdurchlässigen Spiegel.
Michael Powell radikalisiert das Thema von Hitchcocks Voyeur-Thriller „Das Fenster zum Hof" von 1954 dadurch, dass er die Zuschauer dazu zwingt, die Welt aus den Augen – genauer gesagt durch das Kameraobjektiv – des Mörders selbst zu betrachten und mit diesem sogar zu sympathisieren. Beide Filme sind dabei nicht nur außergewöhnlich spannende Thriller, sondern stehen auch als Metapher für das Kino an sich. Das Kino ist immer auch ein Akt des Voyeurismus und wenn diese Filme für den Zuschauer zeitweilig unangenehm sind, dann daher, weil sie ihm seine eigene Rolle verdeutlichen und somit den Spiegel vorhalten. Ein sehr plakatives Bild ist in diesem Zusammenhang die Kamera als Mordinstrument. Sie betont die Tatsache, dass der filmische Prozess immer auch als ein Gewaltakt verstanden werden kann, bei dem es darum geht, Wirklichkeit – oder deren Simulation – mit allen Mitteln aufs Zelluloid zu zwingen. Auch bei diesem Prozess ist der Zuschauer von vornherein indirekt involviert: Denn ohne ein Publikum, das eine bestimmte Art von Filmen sehen will, können diese kaum gemacht werden.
Die Person Mark wird in „Augen der Angst" zu einer Metapher dafür, wie die Filmindustrie Monster erschaffen kann. Der Zuschauer erlebt das Geschehen aus Marks Perspektive – die klassische Deutung hierfür wäre, dass die sadistische Veranlagung des Publikums auf eine fiktive Figur projiziert werden kann. Doch Michael Powell bietet auch noch eine zweite Möglichkeit an. Wenn Mark für die Rolle des Regisseurs steht, dann liegt es nahe, dass die eigentlichen Identifikationsfiguren für den Zuschauer Marks Opfer sind. Und keine dieser Frauen unternimmt einen ernsthaften Fluchtversuch. Stattdessen erscheinen sie gleichermaßen überrascht, vor Angst gelähmt, und auch auf eine seltsame Weise fasziniert zu sein. Es ist genau dieser einzigartige Gefühlscocktail, den Mark mit seiner Kamera für die Ewigkeit festhalten will.
„Augen der Angst" ist ein reflektierter und zugleich enorm wirkungsvoller Film über die Anziehungskraft verstörender Bilder. Michael Powell hat seine ausgefeilten Metaphern in knalliges Technicolor gepackt, das der Oberfläche seines Films eine spektakuläre, fast erotische Leuchtkraft verleiht. Viele Szenen spielen tatsächlich im Milieu der Pornographie – und so dürfte „Augen der Angst" Anfang der 1960er-Jahre in gewisser Weise die „Torture Porns" der Gegenwart vorweg genommen haben.
Fazit: Michael Powells Meisterwerk des Psychothrillers flirtet mit der Direktheit und den spektakulären Mitteln der Exploitation. Doch darunter verbirgt sich einer der wenigen Filme, die uns zeigen, was die besondere Verführungskraft des Kinos ausmacht.