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    Jeder für sich und Gott gegen alle
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Jeder für sich und Gott gegen alle
    Von Carsten Baumgardt

    „Jeder für sich und Gott gegen alle“: Allein schon der pathetisch-gewaltige Filmtitel lässt früh erahnen, was den Betrachter bei Werner Herzogs großem internationalen Durchbruch erwartet. Das phänomenal durchkomponierte, bildstarke Drama zeigt den Star des Neuen Deutschen Films auf der Höhe seines Schaffens. Der Auftakt zu Herzogs inoffizieller Heimatfilm-Trilogie („Herz aus Glas“, 1975; Stroszek, 1977) feierte Erfolge in Cannes (Sonderpreis der Jury, Preis der FIPRESCI, Preis der Ökonomischen Jury) und wurde mit drei Bundesfilmpreisen (Film, Schnitt, Ausstattung) ausgezeichnet.

    Am 26. Mai 1828 erscheint ein junger Mann (Bruno S.) auf dem Nürnberger Unschlittplatz und verharrt stundenlang regungslos auf einer Stelle. Die Offiziellen der Stadt nehmen den sonderbaren Findling genau unter die Lupe, stecken den harmlosen Tor vorsichtshalber gleich mal ins Gefängnis. Kaspar Hauser, so sein Name, ist nur mit minimalen motorischen menschlichen Fähigkeiten ausgestattet. Die ersten Jahre seines am 30. April 1812 beginnenden Lebens verbrachte er offenbar von der Menschheit isoliert ohne soziale Kontakte bei Wasser und Brot in einem Kellerverlies. Auch Schrift und Sprache muss er erst mühsam erlernen. Der human beseelte Professor Daumer (Walter Ladengast) nimmt sich Kaspar an und lehrt ihm, was die Welt ist. Theologen, Mathematiker, Bürokraten und die höhere Gesellschaft bedrängen den Außenseiter, stürzen auf ihn ein, während Hauser versucht, seinen Platz im neuen Leben zu finden.

    Er ist „das Rätsel Europas“, eine gesellschaftliche Sensation. Die authentische Geschichte des Findlings Kaspar Hauser beschäftigt Literaten und Lohnschreiber schon seit Entstehung des Mythos. Mehr als 100 Bücher befassen sich mit dem rätselhaften Leben Hausers, dessen Ermordung (am 17. Dezember 1833) bis heute immer noch mehr Fragen aufwirft, als es Antworten gibt. Die meisten Abhandlungen widmen sich dem undurchsichtigen Kriminalfall um Hauser. Herzog stützt seine Version ausschließlich auf die alten ursprünglichen Dokumente des Rechtsgelehrten und Vormunds Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbach, dem er zum Teil sehr treu folgt. Auch der Einfluss Georg Büchners, den der Regisseur und Autor in Woyzeck (1978) adaptierte, ist stilistisch unverkennbar. Ein Wunder ist es nicht, dass sich Regie-Extremist Werner Herzog keine Minute für den kriminologischen Aspekt interessiert. Ob Kaspar Hauser vom badischen Hochadel abstammt und aus dem Weg bzw. der Erbfolge geräumt werden sollte (Herzog: „Das ist natürlich Unfug“), wird als These in einem Nebensatz als eine von mehreren Möglichkeiten angedeutet, aber nicht weiter verfolgt. Das Schreiben seiner Biografie könnte den Mörder – aus verschiedenen denkbaren Motiven – in Aufruhr und Handlungszwang versetzt haben.

    Herzog lotet in seiner Verfilmung die Auswüchse menschlicher Verhaltensweisen aus. Wie wirkt die Zivilisation auf Kaspar? Er ist ein ähnlich Außerirdischer wie „E.T.“ einst bei Steven Spielberg. Nicht von dieser Welt – symbolisch gesprochen. Kaspar wird von seiner Umwelt wider besseres Wissen traktiert. Er wirkt ungewollt wie ein Spiegel für seine Mitmenschen, reflektiert und offenbart die Natur ihres Gebarens. Hausers Verhaltensweisen sind wie bei einem Kind völlig rein und simpel. In einer der Schlüsselszenen fragt ein Professor der Logik, superb und eindringlich gespielt von Alfred Edel (Stroszek), nach der Lösung eines bekannten Logikrätsels. Er soll mit einer einzigen Frage herausfinden, welche von zwei möglichen Personen ein notorischer Lügner ist und wer immer die Wahrheit sagt. Mit dem logischen Umweg der doppelten Verneinung kann Kaspar nichts anfragen. Seine Sichtweise ist schlicht und stringent. „Ich würde fragen: ‚Bist du ein Laubfrosch’?“, entgegnet er dem verdutzten Professor. „Sagt er ja, ist er der Lügner.“ Diese kurze Sequenz bringt die Entfremdung des einsamen Helden auf den Punkt. Anspruch und Wirklichkeit klaffen eklatant auseinander. Später wird Kaspar gar als Zirkusattraktion ausgestellt, um die Kosten, die er verursacht, wieder hereinzuspielen.

    „Ich möcht als Reiter fliegen. In einer blutigen Schlacht.“ (Kaspar Hauser)

    „Jeder für sich und Gott gegen alle“ steht und fällt mit dem Hauptdarsteller. Herzog hatte wieder einmal großes Glück bei der Besetzung. Das Drehbuch, das er in einer Woche herunterschrieb, war bereits fertig, als ihm der Berliner Hinterhofmusiker und Fabrikarbeiter Bruno S. in einem Fernsehbeitrag (die Dokumentation „Bruno, der Schwarze“) auffiel. Bruno verbrachte nach einer katastrophalen Kindheit selbst 23 Jahre in Erziehungsheimen, musste Gefängnisstrafen für Kleinkriminalität und Landstreicherei verbüßen und steht diesem Kaspar Hauser so nah, wie es nur denkbar ist. Herzogs Vorliebe für schwierige Typen kommt hier voll zum Tragen. Probeaufnahmen für das Co-produzierende ZDF gingen voll daneben, Herzog sah, dass es nicht funktionierte, doch sein Stammkameramann Jörg Schmidt-Reitwein (neben Thomas Mauch) entdeckte eine Facette an dem Hochrisikokandidaten, die ihn davon überzeugte, mit ihm weiter zu arbeiten. Herzog setzte Bruno S., der später auch die Hauptrolle in Stroszek (1977) spielte, gegen alle Bedenkenträger durch und wurde reich belohnt. Die Authentizität, die der Laienschauspieler ausstrahlt, ist unnachahmlich und verleiht der Figur eine unglaublich intensive Tiefe. Bruno S., der von sich nur in der dritten Person zu sprechen pflegt, konnte sehr wohl Regiekommandos umsetzen, aber meist musste dies in ein bis zwei Takes eingespielt werden, um die Disziplin nicht über zu strapazieren. Für Herzog, der Bruno S. gern den „Unbekannten Soldaten des deutschen Films“ nennt, war die Besetzung ein Glücksfall.

    Überhaupt setzt der Filmemacher wieder bewusst viele Laien aus Künstler- und Bekanntenkreisen ein. Sein Hauskomponist Florian Fricke, der mit seiner Band Popol Vuh gewohnt sphärische Klänge beisteuert, ist beispielsweise als blinder Pianist zu sehen, der ehemalige Statist und wirre Weltentheoretiker Clemens Scheitz („Stroszek“) als Protokollführer dabei. Diese Mischung aus Laien und Profis funktioniert in Herzogs Werken stets wunderbar. Natürlich wirkt auch „Jeder für sich und Gott gegen alle“ traditionell spröde. Aber dies ist kein Makel, sondern ein Erkennungsmerkmal, ohne das Herzogs Filme nicht denkbar wären. Dieser konsequente Bruch mit amerikanischen Denkmustern des Filmmachens erweckte das internationale Interesse der Filmpresse im damals immer noch kulturell traumatisierten nachkriegsdeutschen Kino. Durch die Erfolge von Wim Wenders, Rainer Werner Fassbinder, Volker Schlöndorff und eben Herzog gewann der Neue Deutsche Film plötzlich in den 70er Jahren Gestalt und Seele. Es war wieder möglich, sich für deutsche Filme begeistern zu dürfen.

    Die dominante, prägende Stärke Herzogs ist seit jeher die überragende ästhetische Komposition von Bildern. Und genau das gibt auch „Jeder für sich und Gott gegen alle“ den Schub zum Meisterwerk. Ein Film wie ein wunderschönes, tieftrauriges, düsteres Gemälde von Caspar David Friedrich: berauschende Aufnahmen des Seins, des Träumens und des Schwebens, in langen getragenen Einstellungen ausgekostet – unterlegt mit Klängen von Orlando di Lasso, Johann Pachelbel, Tommaso Albinoni und Wolfgang Amadeus Mozart. Die hypnotisch-genialen, verfremdeten, grobkörnig flackernden Traumbilder steuerte der Experimentalfilmer Klaus Wyborny in Abstimmung mit Herzog bei. Sogar sein Bruder und Produzent Lucki Stipetic, der Bilder einer Urlaubsreise einbrachte, ist im kreativen Prozess vertreten. Diese phantastischen Einstellungen sprengen die Grenzen zum Weltlichen und deuten auf das sich abzeichnende Ende hin. Diese scheinbar unbegründeten Bilder verleihen dem Film weitere Substanz auf Herzogs Suche nach der tieferen Form von Wahrheit, wie es der Filmemacher nennt. Beispielhaft für die atemberaubenden Kompositionen sind zwei Szenen: Zu Beginn, als sich der Unbekannte (Hans Musäus) eine Pause gönnt und Kaspar regungslos am Boden liegt, fräst sich dieses Bild, das auch als DVD-Cover diente, in das Gedächtnis, so perfekt ist es komponiert. Ein weiterer von vielen Höhepunkten dieser Art ist die Szene, in der Kaspar und Professor Daumer in einem Boot einen malerischen See überqueren. Optisch schöner kann Kino nicht sein.

    Gedreht wurde „Jeder für sich und Gott gegen alle“ zum Großteil im bayrischen Dinkelsbühl, das sich als unaufdringlicher, aber maßgeschneiderter Schauplatz erweist. Die Traumsequenzen entstanden an verschiedenen Orten, die Bergbesteigung wurde zum Beispiel in Irland gefilmt, weitere Aufnahmen sind aus Afrika. Das exakte Zusammensetzen der Puzzleteile zu einem betörend schönen Ganzen weist „Jeder für sich und Gott gegen alle“ den Weg zu Klassiker. Das Drama gilt zurecht als eines der Schlüsselwerke des Neuen Deutschen Films. Herzogs gestrenger Blick auf die Biedermeier-Gesellschaft ist Kennern seiner Werke und Filmkunstliebhabern nur wärmstens zu empfehlen. Der Parallelentwurf zu Francois Truffauts „Wolfsjunge“ (1970) begeistert bis ins kleinste Detail der von Henning von Gierke perfekt ausgestatteten Szenenbilder. Es gibt so viele Kleinigkeiten, die erst nach und nach entdeckt werden können, dass dieses Werk bei mehrmaligem Ansehen noch wächst.

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