Eine gnadenlos intensive One-Woman-Show
Von Jochen Werner„Verfall überall / Trostlosigkeit für alle“, heißt es einmal im Soundtrack von „Haltlos“. Und falls bis hierhin irgendjemand dachte, dies sei nicht ohnehin ganz und gar und bis in die letzte Schwarzblende hinein ihr Film, singt Hauptdarstellerin Lilith Stangenberg („Sterben“) auch die Lieder selbst, die als gebrochene Privatmoritaten hier und da die Tonspur in Besitz nehmen und dann ganz abrupt wieder abbrechen. So borderline wie Ton und Schnitt in diesen Augenblicken ist auch ihre Martha, die irgendwo zwischen verspielter Kindfrau und emotionaler Zeitbombe durch Berlin-Mitte Film irrlichtert. „Haltlos“ ist die neueste Regiearbeit des ungemein produktiven Schauspielers und Filmemachers Kida Khodr Ramadan („4 Blocks“), aber in erster Linie ist es eine One-Woman-Show von Lilith Stangenberg.
Der zentrale Konflikt ihrer Protagonistin wird schon in den ersten Momenten etabliert. Da spricht Martha bei einem Anwalt vor, mit dem Ansinnen, ihr ungeborenes Kind zur Adoption freizugeben. Die Fronten sind also direkt geklärt, noch bevor wir den Kindsvater kennenlernen. Mit dem verheirateten Sebastian (Samuel Schneider) hat Martha eine intensive, aber komplett perspektivlose Affäre – Frau und Kind zu verlassen kommt für ihn nicht infrage, und das ist von Anfang an geklärt und offen ausgesprochen. Und doch wünscht sich Martha offensichtlich etwas Anderes, etwas mehr von ihm als bloß die schweigende Zustimmung, als sie ihm eröffnet, das ungeplante gemeinsame Kind weggeben zu wollen.
So gesehen ist Sebastian eigentlich der einzige, der überhaupt nichts zur Schwangerschaft und der anstehenden Adoption zu sagen hat, denn alle anderen teilen Martha auch ungefragt mit, was jetzt von ihr zu erwarten sei. Von der übergriffigen Mutter (Jeanette Hain) über die in zumindest dem Anschein nach in schmerzhaft harmonischen Familienverhältnissen lebende Schwester Isabel (Zsá Zsá Inci Bürkle) bis zur besten Freundin Fiona (Susana AbdulMajid) wird sie von allen Seiten bedrängt, das Baby zu behalten. Da ist es völlig egal, ob sie sich ungeeignet fühlt für die Rolle als alleinerziehende Mutter, psychische Labilität hin oder her.
Alle könnten sie ja schließlich mit anfassen, und überhaupt: Ein Kind gehört zu seiner leiblichen Mutter! Da geht es um Liebe, und den Sinn des (weiblichen) Lebens, und überhaupt: Was sollen wir denn den Leuten sagen? Es zieht und zerrt von allen Seiten an Martha, jeder projiziert seine privaten Fantasmen rund um den Mythos Mutterschaft auf ihren zunehmend geschundenen Körper, und immer deutlicher wird das Eine: Sie steckt in der Falle! Richtig kann sie nichts mehr machen, höchstens ihren eigenen Weg in den Niedergang kann sie noch wählen. „Wasser kann fließen. Oder es kann zerschmettern.“
Entgegen der Adoptionsvereinbarung, die eigentlich vorsieht, das Neugeborene direkt nach der Entbindung von der biologischen Mutter zu trennen, legt ihr die Hebamme (Jasmin Tabatabai) das Baby nach der Geburt in den Arm. Und so entsteht eine Bindung, die Martha schließlich einige Wochen später veranlasst, die noch nicht rechtskräftig vollzogene Adoption anzufechten. Aber sind nun Mutter und Kind, von Biologie, Liebe und den menschenunmöglichen Erwartungshaltungen der Umwelt gegen alle Widerstände zusammengeführt, auf dem Weg in ein Happy End voller Solidarität und Kleinfamilienglück? Weit gefehlt…
„Haltlos“ ist ein Film der extremen Stimmungslagen, und Kida Khodr Ramadans Regie stellt sich in dieser Hinsicht ganz in den Dienst seiner Hauptdarstellerin. Ja, er schneidert Lilith Stangenbergs exzessivem Spiel jede einzelne Sequenz regelrecht auf den Leib. Das ist eine Wanderung auf einem schmalen Grat und könnte leicht in Prätention abrutschen. Aber Stangenberg beweist auf wirklich eindrucksvolle Weise, dass sie zweifelsohne das Format hat, das nicht unbeträchtliche Gewicht dieses Filmstoffes wie auch den unbeirrten Fokus auf ihre Protagonistin zu schultern. Ihr Spiel lebt von zahllosen Macken, Tics und Maschen, und aus der Summe entsteht gegen jede Wahrscheinlichkeit kein eitles Großschauspiel, sondern etwas Eigenes, Authentisches, Rohes.
Man muss sich ganz und gar auf ihre Martha einlassen, so wie Stangenberg selbst sich dieser Figur mit Haut und Haar verschreibt. Und muss dann anderthalb Kinostunden lang mit dieser Getriebenen durch den Film, durch Berlin-Mitte, durch die Hölle der ungeplanten, ungewollten, unvorbereiteten Mutterschaft hetzen. Ist man dazu nicht bereit, dann wird man außen vor bleiben. Aber erlaubt man sich selbst die Identifikation mit dieser manchmal ungreifbaren und dann wieder allzu schmerzlich greifbaren Protagonistin, dann wird man es nicht bereuen, mit auf diesen Trip gegangen zu sein.
Fazit: Die neue Regiearbeit von Kida Khodr Ramadan ist durch und durch eine One-Woman-Show von Hauptdarstellerin Lilith Stangenberg – und es ist unerlässlich, sich ganz und gar auf ihr idiosynkratisches Spiel und ihre mitunter schwer fassbare Protagonistin einzulassen. Gelingt einem das, wird „Haltlos“ zum intensiven, mitunter hart an der Grenze zur Prätention entlangschrammenden, aber am Ende mitreißenden Psychotrip.