+++ Meinung +++
Wenn ein Stop-Motion-Trickfilm mit FSK-Freigabe „ab 0“ den Titel „Mein Leben als Zucchini“ trägt, muss man sich nicht wundern, wenn Leute, die wenig für Animation übrig haben, das Weite suchen. Selbst ich als Animationsfilm-Liebhaber war, als mir das allererste Mal dieser Titel unter die Augen kam, desinteressiert. „Wieder ein religiös angehauchter Vorschulfilm über sprechendes Gemüse?“, mutmaßte ich.
Es dauerte eine ganze Weile und mehrere Nennungen des Films in Fachkreisen, bis ich dachte: „Hinter diesem Zucchini-Film muss mehr stecken!“ Erst daraufhin informierte ich mich und erkannte, dass ein Kinobesuch am Startwochenende für mich Pflicht sein wird! Was ich nicht ahnte: Es sollte ein unvergesslicher Kinobesuch werden. Ihr werdet den zwar nicht nachholen können, aber ihr habt Gelegenheit, den dafür verantwortlichen, wirklich tollen Film zu sehen:
Der WDR zeigt „Mein Leben als Zucchini“ in der Nacht von heute, dem 13. Oktober, auf den 14. Oktober 2022 – um Punkt Mitternacht, was deutlich machen dürfte, dass es sich um mehr als einen reinen Kinderfilm handelt. Alternativ zur TV-Ausstrahlung besteht unter anderem die Option, ihn im Abo von Amazon Prime Video zu streamen, wo er entgegen der FSK-Entscheidung erst älteren Kindern empfohlen wird.
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"Mein Leben als Zucchini": Unscheinbar, aber viel dahinter
Als die alkoholabhängige Mutter des neunjährigen Icare, genannt „Zucchini“, eines Tages im Zuge eines Wutanfalls tödlich verunglückt, wird der Junge ins Heim geschickt. Dort macht er Bekanntschaft mit vielen Kindern, die entweder verwaist oder sicherer sind, wenn man ihre Eltern von ihnen fernhält.
Mit dem frechen Simon, der besorgten Béatrice, der schüchternen Alice, dem zerzausten Jujube und dem verträumten Ahmed um ihn herum wirkt das Leben auf Zucchini direkt schöner. Als die mutige Camille neu ins Waisenhaus gelangt, klopft Zucchinis Herz sogar noch höher! Bald darauf muss sich Zucchini mit dem Rest der Waisenkinder einen Plan einfallen lassen, um zu verhindern, dass Camille zu ihrer unangenehmen Tante zieht...
Neu im Heimkino: So habt ihr diesen gruselig-genialen 90er-Kultfilm noch nie gesehen!Regisseur/Autor Claude Barras und den ebenfalls am Skript beteiligten Germano Zullo, Morgan Navarro sowie Céline Sciamma (ja, die „Porträt einer jungen Frau in Flammen“-Macherin!), gelang ein zwar unscheinbarer, aber ungemein faszinierenderer Film: Der Look ist reduziert, bewusst unspektakulär und scheut sich kein bisschen vor Imperfektionen. Das spielt der Story in zweifacher Form in die Karten: Die einfachen, etwas klobigen Figuren und Schauplätze sind angenehm für's Auge – quasi leicht verdaulich. Und somit sind sie ein zwischendurch dringend benötigtes Element der Entlastung in dieser Geschichte über Kindesmissbrauch, Schuldgefühle und Traumata.
Gleichzeitig unterstreicht die „Es ist nicht perfekt, und das ist völlig fein so“-Herangehensweise eine der Aussagen des Films: Du musst dich deiner nicht schämen! „Mein Leben als Zucchini“ schafft es, diese Erkenntnisse und komplexe, widersprüchliche Gefühle in unter 70 Minuten auszubreiten – ohne je gehetzt oder überfrachtet zu wirken. Das liegt an der wie aus dem Leben gegriffenen Interaktion der Figuren und der kitschbefreiten Erzählweise. Der Film beschönigt nichts, bleibt aber seiner Kinderperspektive treu. Ein faszinierenderer Balanceakt, der mir ein unvergessliches Kinoerlebnis bescherte.
Drei Zuschauer*innen, drei unterschiedliche Reaktionen
Mangels Alternativen sah ich „Mein Leben als Zucchini“ an einem Sonntagmittag in einer Familienvorstellung, wo ich neben einem mir unbekannten Mutter-Sohn-Gespann Platz nehmen musste. Oder durfte – wie man's nimmt. Das bedeutete unvermeidliches Smalltalk-Geplänkel mit der Mutter („Der Kleine wollte rein, ich weiß nicht, was mich erwartet“ -„Ich liebe Animationsfilme, und wollte den hier nicht verpassen“). Und es führte dazu, dass ich unmittelbar die sehr unterschiedlichen Reaktionen auf den Film miterlebte.
Die trocken-beiläufigen Späße der Waisenkinder wurden mit über den ganzen Saal verteiltem, herzlichem Kindergelächter entlohnt. Wann immer zwei Figuren ein engeres Freundschaftsband knüpften, wurde der Junge neben mir größer und größer, während er leises Glucksen der Freude von sich gab. Derweil war alle paar Minuten in Folge neuer Schicksalsschläge oder unerwartet freudiger Entwicklungen das aufgelöste In-der-Handtasche-nach-einem-Taschentuch-wühlen-Geraschel der unvorbereiteten Mutter zu vernehmen.
Überraschung: Marvel-Blockbuster landet 3 Tage vor Disney+-Start unangekündigt auf NetflixAls nach dem Film das Licht wieder anging, standen mir Tränen der Rührung in den Augen, aber auch ein (wie ich fürchte) dämliches Lächeln über das gelungene Storytelling ins Gesicht geschrieben. Aus Empathie wollte ich wenigstens noch freundliche Abschiedsworte in Richtung der Mutter werfen, die noch immer hörbar mit dem Film mitlitt. Was ich sah, war eine um Fassung ringende Frau und zwischen uns ihr glückliches Kind, das erst jetzt im Hellen, ohne Ablenkung durch den Film, bemerkte, was sich abspielte. Der Junge drehte sich zu seiner Mutter und fragte mit aufrichtiger Verwirrung:
„Mama, warum weinst du? Das war doch ein lustiger Film?!“ Die Mutter umarmte ihren Sohn, ich saß überfordert und wie versteinert daneben und hörte ein mütterlich gemurmeltes: „Ich bin so froh, dass wir uns haben.“ Ich wollte mich aus diesem intimen Familienmoment entfernen, hörte aber noch ein in meine Richtung gerauntes: „Schön, wenn sie noch nicht verstehen, wie schlimm die Welt sein kann, oder?“ Ich nickte schüchtern und krächzte, wie zuvor vorgenommen, den Wunsch nach einem schönen Tag in Richtung der Dame. Mag wie eine Geschichte aus dem Paulanergarten klingen. Aber für mich bleibt es einer der berührendsten Beweise dafür, was das Kollektiverlebnis Kinobesuch sein kann.
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