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    So genial kann "Star Wars" sein: "Andor" zeigt, was Disney all die Jahre falsch gemacht hat
    Benjamin Hecht
    Benjamin Hecht
    -Redakteur
    Liebt Episode I-VI, „Clone Wars“ und „The Mandalorian“. Die Sequel-Trilogie war für „Star Wars“-Fan Benjamin aber eine riesige Enttäuschung.

    „Andor“ Folge 6 ist das beste, was FILMSTARTS-Redakteur Benjamin seit Jahren von seinem Lieblingsfranchise gesehen hat. Die neue Episode macht deshalb umso mehr deutlich, was Disney seit der Übernahme von Lucasfilm versäumt hat...

    2022 Lucasfilm Ltd. & TM. All Rights Reserved. / Disney+

    +++ Meinung +++

    Fan eines großen Franchises zu sein ist manchmal ganz schön deprimierend. Ich liebe die Grundidee von „Star Wars“, das reichhaltige Universum, den philosophischen Überbau, die ikonischen Designs und legendären Kompositionen. Doch vieles von dem, was der Sternensaga in den vergangenen Jahren in Film- und Serienform hinzugefügt wurde, ließ mich auf die dunkle Seite der Macht wandern. Ich sag’s ganz ehrlich: Die Sequel-Trilogie ist alles in allem ein absolutes Desaster, von der sich meine „Star Wars“-Liebe wohl nie erholen wird und auch die Disney+-Serie „Obi-Wan Kenobi“ verschaffte mir mehr Frust als Freude. Doch „Andor“ hat mich nun all meine negativen Gefühle gegenüber „Star Wars“ für rund 45 Minuten komplett vergessen lassen.

    ›› "Star Wars: Andor" bei Disney+*

    Folge 6 der „Rogue One“-Prequel-Serie hat mich von Anfang bis Ende gepackt, mit komplexen Figuren begeistert, mich mit einem audiovisuell atemberaubenden Spektakel umgehauen und mein Herz mit seinem hochspannenden Heist-Plot zum Rasen gebracht.

    Spätestens nach dieser Episode kann ich sagen: Ich liebe „Andor“! Doch mit dieser Erkenntnis bricht sich auch ein weiterer Gedanke Bahn: Wenn „Star Wars“ so verdammt gut sein kann, woran liegt es, dass Disney all die Jahre so einen gigantischen Mist verzapft hat? Ich habe drei Gründe dafür ausgemacht, doch bevor ich darauf eingehe, lasst uns noch kurz in der Genialität von „Andor“ baden. Nicht nur, weil dadurch die Versäumnisse von Disney umso deutlicher werden, sondern auch, weil es einfach gut tut!

    Darum hat mich "Andor" Folge 6 so umgehauen!

    Ich alter „Star Wars“-Nörgler finde in der aktuellen Folge einfach nichts zum Kritisieren. Der Heist war super spannend inszeniert, bis ins kleinste Detail nachvollziehbar und die gesamte Rebellen-Crew wurde in den beiden Folgen zuvor bereits bestens etabliert, sodass ich nun voll mitfieberte, welcher von ihnen es lebend da heraus schaffen würde. Obendrein hat mich das Setting schwer beeindruckt: Schluss mit lahmen Wüstenplaneten. Wenn in „Andor“ ein Raubzug stattfindet, dann erwartet uns ein wunderschöner Sternenregen, bei dem obendrein auch noch der indigene Stamm der Dhani die Atmosphäre mit zeremoniellen Gesängen anheizt.

    Das Naturspektakel ist aber mehr als Eye-Candy, sondern essentieller Bestandteil der Rebellen-Taktik. Die Schauspielleistungen sind überzeugend, selbst Kleinigkeiten wie der zu dicke Bauch des imperialen Kommandanten haben eine tiefere Bedeutung und auch der Twist am Ende der Folge ergibt rückblickend betrachtet durchaus Sinn, schafft es aber dennoch zu überraschen. Zudem zeigt „Andor“ auch hier mal wieder, dass es eben nicht nur Gut und Böse im „Star Wars“-Universum gibt. Wenn Rebellen das Leben eines Kindes bedrohen, um an einen Haufen Geld zu gelangen, dann möge zwar der Zweck ihre Mittel heiligen, als strahlende Helden taugen sie dann aber auch nicht.

    „Andor“ ist so faszinierend, weil hier jede Interaktion zwischen den Figuren durchdacht, jedes Plot-Detail glaubwürdig und jede Motivation nachvollziehbar ist. Vergleicht das mal mit Folge 4 von „Obi-Wan Kenobi“, wo ebenfalls in eine imperiale Basis eingedrungen wird, aber keinerlei Spannung aufkommt, weil jegliche Logik über Bord geworfen wird. Doch wie kommen diese eklatanten Qualitätsunterschiede denn nun zustande?

    Disneys Fehler Nr. 1: Zu viel "Star Wars"-Fanservice

    Wenn mich eines in den vergangenen Jahren an „Star Wars“ wirklich genervt hat, dann ist es der penetrante Fanservice: Haben „Star Wars“-Liebhaber*innen wirklich was davon, wenn ikonische Figuren wie Boba Fett und Obi-Wan zurückgeholt werden, nur um dann weitere uninspirierte Abenteuer zu erleben? Ist es das wirklich wert gewesen, Imperator Palpatine wiederzubeleben und das Finale der Original-Trilogie damit zu ruinieren? Müssen in jeder verdammten Serie irgendwelche Skywalkers auftauchen? Ich glaube nicht.

    Disney und seine verbundenen Unternehmen

    Bei fast allen Disney-„Star Wars“-Projekten scheint am Anfang die Frage gestanden zu haben: Mit welchen bekannten Figuren locken wir am meisten Menschen ins Kino bzw. zu Disney+? Ob es Sinn ergibt, diese zurückzuholen und ob es auf deren Grundlage überhaupt eine interessante Geschichte mit Mehrwert zu erzählen gibt, schien zweitrangig.

    Nicht so bei „Andor“, das größtenteils auf Fanservice verzichtet und mit Cassian Andor (Diego Luna) zwar eine bereits bekannte, aber nicht sonderlich beliebte „Star Wars“-Figur ins Zentrum rückt. Doch genau das nimmt eben auch den Druck raus, der dadurch ensteht, Millionen von individuellen Fanerwartungen erfüllen zu müssen. Anders als Obi-Wan oder Boba Fett war Andor den meisten Fans völlig egal. So konnten sich die Macher*innen um Tony Gilroy darauf fokussieren, einfach nur ihre eigene kreative Vision umzusetzen, ohne Gefahr zu laufen, eine ikonische „Star Wars“-Figur in eine unerwünschte Richtung zu entwickeln.

    Zwar steht auch hier ein Bantha-Stofftier in der Gegend herum und jemand schüttet sich blaue Milch ein. Doch in einem Universum, in dem Banthas existieren und in dem Milch nun mal blau ist, fühlt sich das völlig natürlich an und ist auch in gewissem Maße nötig, um überhaupt zu verdeutlichen, dass wir uns im „Star Wars“-Universum befinden. Es ist eben Fanservice in Maßen, der uns die Geschichte genießen lässt und uns nicht die ganze Zeit mit unnötigen Querverweisen ablenkt.

    Disneys Fehler Nr. 2: Schlechtes Zeitmanagement

    Das zweite eklatante Problem der Disney-Ära ist der zu oft entstehende Zeitdruck hinter den Kulissen. Nachdem „Star Wars 8“ einen gigantischen Shitstorm auslöste (unter anderem weil, wie oben erwähnt, eine ikonische Figur in eine unerwünschte Richtung entwickelt wurde), verfielen die „Star Wars“-Verantwortlichen um Kathleen Kennedy in überhasteten Aktionismus. Anstatt sich die Zeit zu nehmen, die Fehler der Vergangenheit zu analysieren und sich vielleicht noch ein weiteres Jahr zu gönnen, um eine Lösung für „Episode 9“ zu finden, die „Star Wars 7“- und „Star Wars 8“-Fans versöhnt hätte, wurden die ursprünglichen Pläne komplett umgeworfen und dennoch stur am angepeilten Kinostart festgehalten.

    Colin Trevorrow, der eigentlich die Regie führen sollte und auch schon ein Drehbuch geschrieben hatte, wurde reflexartig durch „Episode 7“-Regisseur J.J. Abrams ersetzt, der innerhalb kürzester Zeit das Skript massiv umschreiben und „Episode 9“ inszenieren musste. Das Finale der Sequel-Trilogie wurde ganz neu konzipert, da waren bis zum Kinostart nur noch zwei Jahre Zeit, was für einen Blockbuster dieser Art mit einer effektlastigen Post-Produktion einfach zu wenig ist.

    "Star Wars 9": Darum hatte J.J. Abrams einen sehr undankbaren Job

    Dem fertigen Film merkt man den Zeitmangel auch wirklich an. So wurde etwa die Rückkehr des totgeglaubten Imperators Palpatine im Introtext abgehandelt und von Poe nur lapidar mit den Worten „Irgendwie ist Palpatine zurückgekehrt“ kommentiert. Keine zufriedenstellende Erklärung, keine Finesse: Es wirkt so, als wäre der allererste Drehbuchentwurf abgesegnet worden, weil einfach keine Zeit mehr da war, noch Feinheiten herauszuarbeiten.

    „Obi-Wan Kenobi“ hat ein ähnliches Problem: Das Drehbuch hat Logiklöcher wie ein Schweizer Käse, was vermutlich ebenfalls an Zeitdruck und einer massiven Umgestaltung des Original-Skripts lag. Jahrelang wurde an einem „Obi-Wan“-Film gearbeitet, doch dann musste plötzlich eine Serie für Disney+ her und die Geschichte künstlich in die Länge gestreckt werden. Noch dazu kommt das teils erschreckend billig aussehende CGI, das wohl ebenfalls dem Zeitmangel geschuldet ist, unter dem Firmen für visuelle Effekte in der heutigen Zeit leider sehr oft leiden.

    Umso erstaunter war ich, wie viel besser das CGI in „Andor“ aussieht und wie wasserdicht das Drehbuch ist. Kein nerviges Logikloch-Dauerfeuer, das auch die mächtigste Suspension of disbelief zum Bersten bringt, keine grobschlächtigen Raumschiff-Animationen, die wirken, als wären sie aus einem Videospiel der letzten Generation. „Andor“ wirkt im Vergleich zu Disneys vorherigen „Star Wars“-Produkten von vorne bis hinten durchdacht und auch die Effekte sind wieder deutlich polierter als bei „Obi-Wan Kenobi“. Das „Rogue-One“-Prequel wurde bereits vor vier Jahren angekündigt und offenbar nahmen sich Gilroy und sein Team alle Zeit, die sie eben brauchten, um das bestmögliche und nicht das schnellstmögliche Ergebnis zu erzielen.

    Disney+

    Disneys Fehler Nr. 3: Kein tieferer Sinn

    Disney ist der Unterhaltungskonzern schlechthin und da ist es kein Wunder, dass er seine Filme und Serien mit wenigen Ausnahmen als reine Unterhaltungsprodukte ohne tieferen Sinn konzipiert. Darunter leidet sogar „The Mandalorian“, eine Serie, die ich ansonsten sehr gern habe, von der aber letztendlich außer coolen Designs und einem kleinen grünen Alien nichts hängen bleibt.

    Doch das „Star Wars“ von George Lucas ist mehr als bloße Unterhaltung. Dieser Mann wollte etwas zur Natur des Menschen sagen, zum ewig währenden Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Egoismus und Altruismus, der in uns allen stets stattfindet. Sehr rudimentäre, einfache, aber größtenteils richtige Gedanken, die in „Star Wars“ enorm ansprechend verpackt sind. Doch Disney ist das alles egal.

    Rian Johnson war der einzige, der es sich getraut hat, mit seiner „Episode 8“ die tiefere Lucas'sche Deutungsebene weiterzudenken, schlug dabei aber etwas zu sehr über die Stränge und wurde dafür von lautstarken Fans mächtig abgestraft. Seitdem ist „Star Wars“ ein reines Hirn-Aus-Produkt. Das klappt zwar bei einem „Boba Fett“, das sich ohnehin nicht so ernst nimmt, aber ein „Obi-Wan Kenobi“, das seinen Schwerpunkt auf Drama setzt, versinkt dadurch in der Belanglosigkeit.

    In "Andor" steckt mehr, als ihr denkt: Dieses winzige Detail greift eine 25.000 Jahre alte "Star Wars"-Geschichte auf!

    „Andor“ bietet endlich mal wieder anregende Denkanstöße. Am deutlichsten geschieht das natürlich durch den Rebellen Nemik (Alex Lawther), der sogar ein politisches Manifest niederschreibt. Doch allein schon die vielfältigen, ambivalenten und nachvollziehbaren Motive der einzelnen Figuren zwingen uns, unsere eigenen moralischen Urteile zu fällen. „Andor“ stellt die Dekadenz und Überheblichkeit des Imperiums ebenso zur Schau wie die brutalen Methoden der Rebellen. Der vermeintliche Held schockiert mit seinem allzu schnellen Finger am Abzug und ein vermeintlicher Schurke findet unser Mitleid, weil er seinen Job verliert. Sogar eiskalte Opportunisten ohne jegliche Ideale finden ihren Platz in „Andor“.

    Für Showrunner Tony Gilroy war es stets zweitrangig, dass es sich bei „Andor“ um eine „Star Wars“-Serie handelt. Er wollte einfach nur ergründen, was einen pragmatischen Einzelkämpfer wie Cassian dazu motiviert, zum Rebellen zu werden, der bereit ist, sein eigenes Leben für ein höheres Ziel zu opfern – und daraus eine sehenswerte, für sich stehende Serie machen.

    Lange Zeit hatte ich das Gefühl, als „Star Wars“-Fan wäre ich für Disney nichts weiter als ein Dollarzeichen in den Augen Kathleen Kennedys. „Andor“ gibt mir Hoffnung, dass auch gut durchdachte, tiefgründige und von Fanservice unabhängige Geschichten bei Disney noch eine Chance bekommen. Als Zuschauer fühle ich mich von „Star Wars“ endlich wieder ernstgenommen.

    "Andor" verschenkt sein volles Potenzial: In diesem wichtigen "Star Wars"-Aspekt enttäuscht die Disney+-Serie

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