+++ Meinung +++
David Cronenberg, Meister des Body-Horrors wie in „Videodrome“ und „Die Fliege“, stellt im Wettbewerb des Filmfestivals von Cannes 2022 seinen neuen Film „Crimes Of The Future“ vor – und versprach im Vorfeld einen hohen Ekelfaktor, der bei frühen Vorführungen bereits zu Panikattacken und Ohnmachtsanfällen geführt haben soll. Entsprechend groß waren die Erwartungen an den Film mit Viggo Mortensen, Léa Seydoux und Kristen Stewart, in dem es um mutierte Körper und Live-Operationen geht – würden wir hier einen echten Schocker sehen, einen neuen Skandalfilm? Nur halb im Scherz habe ich mit meinen Kolleg*innen vorher gewitzelt, ob man sicherheitshalber eine Kotztüte in die Vorführung mitnehmen sollte.
Nach den ersten fünf Minuten würden Zuschauer*innen den Saal verlassen, prophezeite Cronenberg. Geschehen ist das dann allerdings bei der Pressevorführung von „Crimes Of The Future“ in Cannes nicht. Die vereinzelten Personen, die den Saal verließen, mussten vielleicht auch nur weiter zu ihrem nächsten Termin – wie das in Cannes so häufig der Fall ist. Trotz vieler aufgeschnippelter Körper wirken die Bilder nie wirklich schockierend – da habe ich bei den vielen Kotz-Szenen in Ruben Östlunds „Triangle Of Sadness“, der ebenfalls im Wettbewerb in Cannes läuft, wesentlich häufiger die Augen abwenden müssen.
Crimes Of The FutureDass ich „Crimes Of The Future“ zwar interessant fand, er mich aber absolut nicht verstört oder groß angeekelt hat, liegt aber vielleicht auch daran, dass ich erst am Vortag einen anderen heißerwarteten Horrorfilm gesehen hatte, der mit viel abgefahreneren Szenen aufwartet – „Men“ von „Ex Machina“-Regisseur Alex Garland, der in Cannes bei der Directors’ Fortnight gezeigt wurde.
Alex Garlands "Men": Surrealer Horror-Trip
„Men“ könnt ihr schon ab dem 21. Juli 2022 ganz regulär im Kino sehen. Aber seid gewarnt: Der surreale Horror mit Jessie Buckley und Rory Kinnear ist nicht nur absurd-verstörend und mit vielen skurrilen Momenten gespickt, sondern wartet vor allem mit einem absoluten What-the-fuck-Finale auf, wogegen sich die von der Idee her zwar interessanten, aber seltsam steril wirkenden Body-Horror-Szenen in „Crimes Of The Future“ anfühlen wie eine Sendung-mit-der-Maus-Folge über Organtransplantationen.
Im Feminismus-Horror „Men“ über Harper (Buckley), die nach dem Tod ihres Mannes in einem Ferienhaus zur Ruhe kommen will und in dem kleinen Ort von verschiedenen Männern (alle gespielt von Kinnear) auf die verschiedensten Weisen belästigt und bedroht wird, dreht Regisseur Garland hingegen am Ende völlig frei, und dreht den Schock-Faktor auf Anschlag.
Men - Was dich sucht, wird dich findenWer unvorbereitet in den Film geht und einfach nur (Psycho)-Horror mit Mystery-Elementen erwartet, wie sie sich vielfach während des Films andeuten, als zum Beispiel ein mysteriöser, leicht grünlich angegammelter Waldschrat wie aus dem Nichts auftaucht und Harper verfolgt, dürfte in den letzten Minuten des Films völlig entgeistert die Leinwand anstarren – und das ist etwas, wofür „Crimes Of The Future“ einfach viel zu glatt wirkt (Achtung, Spoiler! Wer sich von dem grotesken Finale in „Men“ überraschen lassen will, sollte nach dem Trailer nicht weiterlesen und einfach im Sommer ein Kinoticket lösen):
In „Men“ nimmt das Ekel-Finale damit seinen Anfang, dass Harper ihrem Verfolger ein Messer in den Arm rammt – und dieser sich damit sowohl Arm als auch Hand in zwei Hälften spaltet, während die Kamera voll draufhält. Die Szenen stammen zwar aus dem Computer, dennoch gehen sie einem körperlich wesentlich mehr als die Nieren als die präzisen Skalpell-Schnitte in Cronenbergs Werk. Doch die wirklichen WTF-Momente kommen erst noch: Der nackte Waldschrat hat eine (CGI-)Vagina und gebiert einen blutüberströmten weiteren Mann, der wiederum einen Mann gebiert, und so weiter, bis sich irgendwann der Geburtsvorgang auf eine Öffnung im Rücken einer der Männer verlagert und sich ein Mann aus der blutig-matschigen Hülle eines anderen Mannes herausschält…
Dieses Film-Finale wird man so schnell nicht wieder vergessen – egal ob man es gut findet oder darüber den Kopf schüttelt. Einfach nur mit Blut und Verstümmelung schocken, das kann so gut wie jeder Horrorfilm. Aber im Kino mal wieder etwas völlig Unerwartetes zu sehen, bei dem man sich ungläubig fragt „was zur Hölle passiert da gerade?“, erlebt man nicht so häufig. Ab dem 21. Juli 2022 habt ihr im Kino mit „Men“ die Chance dazu. Den soliden, aber eben nicht besonders aufregenden „Crimes Of The Future“, gibt es hingegen erst ab dem 3. November 2022 zu sehen.