Als jobbedingt nach Berlin ausgewanderter Hamburger ist es für mich ohnehin immer ein nostalgisches Vergnügen, zum FILMFEST HAMBURG zurückzukehren. Aber in diesem Jahr war es trotzdem noch mal eine besondere Freude – denn zum ersten Mal war ich nicht nur als akkreditierter Journalist, sondern auch als Teil der Kritikerjury mit dabei.
Und so ist mein erster Tipp dann auch der Film, den meine Jury-Kolleg*innen (u.a. Süddeutschen Zeitung, Zeit Online, Welt) und ich bei der gestrigen Abschlussveranstaltung sehr, sehr gern mit dem Preis der Filmkritik ausgezeichnet haben:
„Vortex“
von Gaspar Noé
Darum geht’s: Das verwinkelte Appartement in Paris ist bis obenhin mit Büchern und Erinnerungsstücken vollgestopft. Sie sind Ausdruck eines langen, reichen Lebens, dass der Mann (Dario Argento) und die Frau (Françoise Lebrun) hinter sich gebracht haben. Nun hat er Herzprobleme, sie leidet an Demenz – und es wird zunehmend schwieriger, den Alltag allein zu meistern…
Darum sollte man sich den Film unbedingt merken: Gaspar Noé, Regisseur von zum Skandal erklärten Filmen wie „Irréversible“ und „Climax“, verzichtet zur Abwechslung zwar auf Provokation – aber nicht auf seinen experimentellen Stilwillen! Zu Beginn wachen die Eheleute noch im selben Bett und Bild auf – aber dann teilt sich die Leinwand und der Rest des Films findet im Splitscreen statt.
„Vortex“ ist also hochgradig artifiziell – und dabei doch so authentisch in seiner Schilderung des Alters, dass es einem immer wieder das Herz zerreißt. Ein visionäres Kinoexperiment, das zugleich doch ganz nah dran ist an seinen um Würde ringenden Protagonist*innen. Selbst wer bisher nichts mit dem Regie-Enfant-terrible Gaspar Noé anfangen konnte, wird sich diesem gnadenlos ehrlichen und inszenatorisch brillanten Strudel kaum entziehen können.
von Guido Hendrikx
Darum geht’s: Ein simples Konzept, das zunächst wie ein minimalistisches „Jackass“ anmutet, sich dann aber in eine völlig überraschende Richtung entwickelt: Regisseur Guido Hendrikx klingelt bei fremden Menschen – und richtet seine Kamera auf diejenigen, die ihm die Tür öffnen, ohne dabei je auch nur ein einziges Wort zu sprechen. Manche sind perplex, andere bekommen Angst, wieder andere finden es absurd-lustig – und natürlich kriegt der Mann mit der Kamera an einer Stelle auch auf die Fresse.
Darum sollte man sich den Film unbedingt merken: Sicherlich wirft „A Man And A Camera“ Fragen über die moralischen Grenzen des Dokumentarfilms auf. Wenn sich gerade Frauen vor dem regungslosen Mann vor ihrer Tür fürchten, Guido Hendrikx aber weiter wortlos draufhält, kann man das auch einfach nur übergriffig finden. Aber zugleich legt der Regisseur auch die ungeschminkte Menschlichkeit in all ihren (negativen wie positiven) Formen offen – mit zum Teil erstaunlichen Ergebnissen.
Er wird nämlich keineswegs überall nur vom Hof gejagt. Manche bitten ihn auch herein – wo der Mann mit der Kamera dann solange mit auf dem Sofa sitzt, bis die eigentlichen Bewohner der Wohnung ihn beim abendlichen Fernsehschauen gar nicht mehr wahrzunehmen scheinen…
„Die Rache ist mein, alle anderen zahlen bar“
von Edwin
Darum geht’s: Ajo Kawir (Marthino Lio) ist seit einem traumatischen Vorfall in seiner Jugend impotent – und kompensiert das, indem er sich furchtlos in jeden Kampf stürzt, den er nur irgendwie vom Zaun brechen kann. Als er sich mit der Personenschützerin Iteung (Ladya Cheryl) prügelt, verlieben sich die beiden Hals über Kopf ineinander – und heiraten sogar. Aber das Problem mit der Impotenz lässt sich vermutlich trotzdem nur mit Rache lösen…
Darum sollte man sich den Film unbedingt merken: Einen solchen Martial-Arts-Film wie den Gewinner des Goldenen Leoparden beim Filmfestival in Locarno habt ihr ganz sicher noch nicht gesehen. Auf der einen Seite stellt Edwin den Zusammenhang von Impotenz und Gewalt, der auch schon im amerikanischen Dampfhammer-Actionkino der Achtziger immer subtil mitschwang, fast schon karikaturesk aus – zum anderen webt er aber auch noch einen zarten mythischen Geisterfaden mit in seine Rachegeschichte ein.
Ein Muss für Fans von aufregend-avantgardistischem Genrekino!
von Laura Wandel
Darum geht’s: Die siebenjährige Nora hat Angst vor ihrem ersten Schultag. Aber am Ende ist es nicht sie, sondern ihr großer Bruder Abel, der auf dem Pausenhof immer krasser schikaniert wird. Eine Situation, die die machtlos zuschauende Erstklässlerin schwer belastet...
Darum sollte man sich den Film unbedingt merken: Regisseurin Laura Wandel beweist mit „Playground“ nicht nur eine erstaunliche Empathie gegenüber ihren Figuren, sondern auch einen unbedingten Stilwillen: Die Kamera bewegt sich meist auf Augenhöhe der Grundschüler*innen, was ein durchaus ungemütliches Gefühl der Machtlosigkeit tranportiert.
Zudem traut sich die Regisseurin, selbst ihre siebenjährige Protagonistin nicht nur „positiv“ zu zeichnen, sondern allzu menschliche Brüche zuzulassen (als Nora wegen der Außenseiterrolle ihres Bruders nicht zu einem Geburtstag eingeladen wird, will sie mit ihm auch nichts mehr zu tun haben). „Playground“ ist deshalb kein gutmeinender Problemfilm samt einfacher Antworten, sondern ein ungemein filmischer, konsequent ambivalenter Schlag in die Magengrube.
„Annette“
von Leos Carax
Darum geht’s: Der für seine bewusst schockierenden Auftritte berüchtigte Stand-Up-Comedian Henry (Adam Driver) liebt die Opernsängerin Ann (Marion Cotillard). Die beiden bekommen eine Tochter und nennen sie Annette. Aber in Henry brodelt die Wut – erst Recht, als seine Karriere nach einer Reihe von #metoo-Vorwürfen den Bach runtergeht. Bei einer Bootsfahrt auf stürmischer See kommt es schließlich zur Katastrophe…
Darum sollte man sich den Film unbedingt merken: In der offiziellen FILMSTARTS-Kritik zu „Annette“ beschreibt mein Kollege Michael Meyns das Avantgarde-Musical als „Publikumsspalter, wie er im Buche steht“. Eine sicherlich richtige Einschätzung – aber ich persönlich bin auf der Seite absoluter Kinoekstase gelandet. Der beim FILMFEST HAMBURG mit dem Douglas-Sirk-Preis ausgezeichnete Leos Carax („Holy Motors“) liefert auch mit seinem „nur“ sechsten Spielfilm in 37 Jahren ein Werk, wie man es garantiert noch nie zuvor gesehen hat (und wahrscheinlich auch in Zukunft nicht mehr sehen wird).
Gerade Adam Driver („The Last Duel“) liefert als egomaner Stand-up-Comedian mit #metoo-Problemen eine Performance für die Ewigkeit – und wenn die titelgebende Annette nicht von einem „echten“ kleinen Mädchen, sondern von einer Holzpuppe verkörpert wird, dann versteht man endgültig, dass Leos Carax keine Zugeständnisse an niemanden macht. Eine kompromisslose Leinwandvision, die man lieben oder hassen kann, die aber sicherlich niemanden kalt lassen wird.
Annette