+++ Meinung +++
Mit Netflix kam das Bingen und der große Jubel. Endlich ist man nicht mehr an den wöchentlichen Ausstrahlungsrhythmus der TV-Sender gebunden, sondern kann die Episoden schauen, wann man sie will: alle an einem Tag wegbingen, über ein Wochenende oder gemütlich über viele Wochen.
Doch ich habe schnell bemerkt, dass für mich beim Serienkonsum ein Teil weggefallen ist, der mir immer ganz wichtig war: das Diskutieren darüber! Fernsehen war früher ein großes Gemeinschaftserlebnis. Am nächsten Tag wurde auf der Arbeit, in der Schule etc. über den „Tatort“, „Wetten dass...“ oder „Twin Peaks“ gesprochen. Ich habe Stunden damit zugebracht, mit Freundinnen und Freuden über neueste Episoden von „Lost“, „Sons Of Anarchy“ oder „Dexter“ zu debattieren und zu spekulieren: Was könnte uns jetzt erwarten?
Das gibt es bei Netflix nicht mehr, denn der eine ist dann erst bei Episode 3, die andere schon bei Folge 8 und ich irgendwo dazwischen. Also reden wir am Ende nur über Staffeln – und es ist dann vielleicht schon Wochen her, dass wir sie gesehen haben...
"The Mandalorian" wäre vom Netflix-Modell erwürgt worden
Als Disney+ an den Start ging, gab es viel Spott dafür, dass das Maushaus ankündigte, auf das alte Release-Modell zu setzen und uns größtenteils eine Episode pro Woche zu geben. Als man dies beim Deutschland-Start Monate später erneut durchzog, obwohl zum Beispiel die komplette erste Staffel von „The Mandalorian“ bereits erhältlich war, waren Leute regelrecht erbost darüber, dass Disney ihnen die Binge-Möglichkeit erst einmal vorenthält (was wir allein für Zuschriften deswegen erhalten haben, dass wir da doch mal Stimmung gegen machen sollten).
» "The Mandalorian" auf Disney+*
Doch gerade die jüngst beendete zweite Staffel von „The Mandalorian“ beweist für mich, dass Disney damit alles richtig gemacht hat. Denn ich bin mir sicher: Ein Großteil des Erlebnisses, welches diese zweite Staffel war, hätte es mit dem Binge-Modell nicht gegeben. Die Serie wäre davon richtig erwürgt worden.
Wen würde Cobb Vanth oder Ahsoka Tano noch interessieren?
„The Mandalorian“ erzeugte wieder die alte Lagerfeuer-Situation. Woche für Woche diskutierte man gemeinsam über die aktuelle Folge, spekulierte, wie es weitergehen könnte und steigerte die Vorfreude auf die neue Episode. Doch das ist nicht der einzige Grund, warum das Ausstrahlungsmodell von „The Mandalorian“ einfach besser ist als das Bingen auf Netflix. Es hilft nämlich auch den Nebenfiguren.
Schließlich haben wir nicht nur darüber geredet, wie die Episode um Ahsoka Tano konsequent wie ein Samurai-Film inszeniert wurde und sogar einzelne Einstellungen direkt aus den Akira-Kurosawa-Klassikern übernommen wurden, sondern wir haben die Auftritte von Figuren wie Cobb Vanth, ebenjener Ahsoka Tano oder Boba Fett gefeiert – und zwar gemeinsam.
Würde nur eine einzige Person ein Wort über den großartigen Auftritt von Timothy Olyphant als Cobb Vanth nach einer Binge-Veröffentlichung reden? Nein, selbst Ahsoka Tano wäre wohl nur eine Randnotiz, weil die Diskussion um einen anderen Jedi alles dominieren würde.
Binge-Verzicht ist keine Lösung
Wenn ich bislang in Diskussionen immer wieder anspreche, warum ich das Bingen kritisch sehe (obwohl ich es ausführlich mache und auch früher schon machte, wenn ich Serien nachholte), höre ich oft: „Warum schaust du nicht einfach nur eine Folge pro Woche? Hindert dich doch keiner dran!“
Abgesehen davon, dass man den Spieß sehr einfach umdrehen könnte (Binge-Fans können schließlich auch warten, bis alles da ist, und dann „The Mandalorian“ und Co. in einem Rutsch schauen): Das könnte ich natürlich machen, bringt aber nix. Selbst wenn ich eine Gemeinschaft Gleichgesinnter finde und wir zu festen Zeiten jede Episode schauen, ist das nur ein kleiner Ausgleich.
Schließlich gehört seit über 20 Jahren das Internet zum Gemeinschaftserlebnis des Serienschauens dazu, um sich auch dort über Theorien auszutauschen und welche zu entdecken, auf die man vielleicht selbst gar nicht gekommen ist. Ich bin sogar überzeugt, dass Serien wie „Lost“ oder „Game Of Thrones“ einen großen Teil ihres Erfolgs (aber auch der späteren Enttäuschung über die finalen Folgen) dem Diskutieren und Debattieren im Netz verdankt.
Netflix verliert mich ein Stück weit
Natürlich wird es in Zukunft beides weiterhin geben. Netflix wird sein Binge-Mantra nicht aufgeben, Disney+ setzt auch bei kommenden „Star Wars“- oder den demnächst mit „WandaVision“ beginnenden Marvel-Serien auf seinen wöchentlichen Rhythmus, den es bei Serien aus dem klassischen TV wie „The Walking Dead“ ohnehin gibt.
Ich habe längst festgestellt, dass ich die wöchentliche Ausstrahlung bevorzuge, „The Mandalorian“ hat das mir nur noch einmal bewiesen. Mit dem Bingen verliert mich Netflix sogar ein Stück weit. Meine gerade frisch abgerufenen Nutzerdaten bestätigten mir: Ich habe 2020 so wenig Serien auf Netflix geschaut wie noch nie in den über sechs Jahren, die ich nun Kunde bin. Und meine Netflix-Highlights sind wahrscheinlich nicht zufällig „Better Call Saul“ mit einem wöchentlichen Ausstrahlungsrhythmus, weil klassische TV-Serie in den USA, und die Sport-Doku „The Last Dance“ über die man sehr frei diskutieren kann, egal wie weit die einzelnen Gesprächspartnerinnen und -partner sind.
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