Dass Netflix die eigenen Großproduktionen in aller Regel exklusiv ausstrahlen will und eine Kinoauswertung somit ausschließt, ist mittlerweile ein alter Hut. Ebenso ist bekannt, dass diese Regelung nicht ohne Ausnahme ist. So schaffte es die Netflixproduktion „Roma“ im letzten Jahr noch vor der Streamingpremiere in die Kinos.
Das offensichtliche Motiv hinter dieser vermeintlichen Inkonsequenz ist aber keine Demut, sondern der Tatsache geschuldet, dass ein Film nur dann für eine Oscarnominierung in Frage kommt, wenn er mindestens 7 Tage lang in einem Kino im Großraum Los Angeles gelaufen ist. Bei „Roma“ bewährte sich dieses Kalkül – der Film heimste gleich drei Oscars in den Kategorien beste Regie, beste Kamera und bester fremdsprachiger Film ein.
"The Irishman" soll Netflix einen Oscar-Segen bescheren
Mit „The Irishman“, dem neuen Werk von Meisterregisseur Martin Scorsese („The Wolf of Wall Street“), will Netflix diesen Coup wiederholen. Immerhin versammelt der Hollywood-Veteran in seinem Mafia-Epos ein Who Is Who aus Stars klassischer Gangsterfilme: Robert De Niro, Al Pacino, Joe Pesci und Harvey Keitel. Und mit einer Spieldauer von nicht weniger als 3,5 Stunden ist es nicht nur der längste Film von Scorsese, sondern auch die mit Abstand längste Netflix-Produktion überhaupt. Es spricht also viel dafür, dass „The Irishman“ das Magnum Opus eines der wichtigsten Regisseure der Kinogeschichte wird. Wann also sollte Netflix auf Oscar-Chancen spekulieren, wenn nicht jetzt?
Die großen Kinos sperren Martin Scorseses Netflixfilm aus
Folglich will Netflix das Prestige-Projekt am 1. November auf die Leinwände bringen. Doch will sich der Streamingriese nach wie vor nicht an die übliche Regelung halten, dass zwischen Kinoauswertung und einem Filmrelease auf anderem Wege drei Monate Abstand liegen müssen. Denn auf Netflix selbst soll „The Irishman“ weniger als 4 Wochen später abrufbar sein.
IndieWire berichtet nun, dass sich sämtliche große Kinoketten weigern, den Film ins Programm aufzunehmen – denn wenn die Regelung einmal gebrochen wurde, so die Befürchtung, könnte dies den Anbeginn einer ganzen Flut von Kinoauswertungen bedeuten, deren Streaming-Releases sich nur Wochen später ereignen.
Die Folge: „The Irishman“ wird nur einen sehr reduzierten Kinostart in kleineren Kinos bekommen, während die großen Ketten der Netflix-Produktion geschlossen den Zutritt verwehren. Nach Vorführungen in Los Angeles und New York am 01. November werden dann auch immer mehr Kinos außerhalb der USA den Film spielen. Ob und wann er hierzulande im Kino gezeigt wird, ist bisher noch nicht bekannt, mit hoher Wahrscheinlichkeit wird der Film aber auch bei uns auf der großen Leinwand laufen. Am 27. November startet „The Irishman“ dann weltweit auf Netflix.
Auch "Roma" war trotz Kinoboykott siegreich
Der Prinzipienkampf zwischen Netflix und den großen Kinoketten wird aller Voraussicht nach keinen Einfluss auf die Oscarchancen von „The Irishman“ haben. Denn dasselbe Drama spielte sich mit „Roma“ schon einmal ab.
Das kann man entweder so lesen, dass die Kinos ihre überholte Politik modernisieren müssen, um in einer Welt, in der Streaming binnen kürzester Zeit die Normalform von Filmkonsum geworden ist, weiter ihre Relevanz zu erhalten. Immerhin geht ihnen mit Scorseses neuem Film wahrscheinlich ein Hit durch die Lappen. Oder aber man erkennt darin die stetig wachsende Macht des Streaming-Dienstes, der das Kino als Aufführungsort abgelöst hat und nur noch instrumental einsetzt, bis die Oscar-Academy und andere Preisverleiher klein beigeben und auch Filme am Rennen um die Trophäen teilnehmen lassen, die noch nie in einem Kino abgespielt wurden.
Darum geht es in Scorseses "The Irishman"
Erzählt wird die auf Tatsachen basierende Geschichte des Mafia-Killers Frank Sheeran (Robert De Niro), der nach seinem Dienst im Zweiten Weltkrieg einen rasanten Aufstieg in der italienischen Mafia erlebte. Dort avancierte er zum Top-Assassinen und arbeitete bald schon nicht mehr nur für die Cosa Nostra, sondern auch für den Gewerkschaftsboss Jimmy Hoffa. Sein Treiben nahm bedeutenden Einfluss auf die US-Historie und beschäftigt das FBI bis heute. Der Film erstreckt sich über mehrere Jahrzehnte und nimmt vor allem drei Lebensabschnitte Sheerans in den Fokus: Der Mafiaeinstieg in seinen 30ern, sein Leben als 50-Jähriger und schließlich seine Rückschau als alter Mann. Die Figuren werden durchgehend von den gleichen Schauspielern dargestellt – das hat zur Folge, dass diese für die Hälfte des Filmes digital verjüngt werden.
"The Irishman": Der erste Trailer zu Netflix' Mafia-Epos zeigt den verjüngten Robert De Niro