Seine Rolle als Dr. Dave Bowman in Stanley Kubricks bahnbrechendem Science-Fiction-Meisterwerk „2001 – Odyssee im Weltraum“ machte den Amerikaner Keir Dullea 1968 weltberühmt. Dieser Auftritt blieb von seinen rund 30 Film- und mehr als 40 Fernsehrollen am meisten im Bewusstsein der Kinofans hängen. Im richtigen Ruhestand ist Dullea aber nicht, so spielte er zuletzt in Ramin Bahranis Klassiker-Remake von „Fahrenheit 451“ für den US-Pay-TV-Sender HBO eine kleine Rolle (zur FILMSTARTS-Kritik) oder auch in der TV-Serie „The Path“. Der Mann aus Cleveland, Ohio ist topfit und wusste bei unserem Interview auf einer Yacht im Hafen von Cannes tolle Anekdoten von den „2001“-Dreharbeiten und Stanley Kubrick zu berichten.
„2001 – Odyssee im Weltraum“ läuft im Juni 2018 zum 50-jährigen Jubiläum in ausgewählten Kinos mit einer tourenden Kopie in der von Christopher Nolan nach dem 70mm-Original restaurierten Fassung, ab dem 21. Juni wird eine 4K-Version in mehreren Lichtspielhäusern zu sehen sein.
FILMSTARTS: Als du „2001 – Odyssee im Weltraum“ das erste Mal auf der großen Leinwand gesehen hast: Wie war dein Eindruck, hast du den Film komplett erfassen können?
2001: Odyssee im WeltraumKeir Dullea: Es war ein überwältigendes Erlebnis. Einen solchen Film zu machen, ist eine so subjektive Erfahrung. Da ist zuallererst diese außergewöhnliche Eröffnungssequenz, „Aufbruch der Menschheit“, und die kühne Mittelsequenz mit Dr. Floyd [gespielt von William Sylvester] – was in dieser Form komplett neu war. Ich habe das Drehbuch gelesen, ja, aber im Endeffekt ist es eine ungeheure visuelle Erfahrung, mit – wie wir alle wissen – wenigen Dialogen. Also, das Lesen des Drehbuchs gab mir eine ungefähre Ahnung davon, was vor sich geht, aber nichts hat mich darauf vorbereitet, was der Film in der Welt und auch in mir auslösen wird. Wir sitzen hier, reden über „2001“ – und das 50 Jahre nach dem Kinostart. Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass „2001“ ein ikonischer Film wie Orson Welles‘ „Citizen Kane“ werden würde.
Jeder Mensch nimmt „2001“ anders wahr
FILMSTARTS: Hast du Stanley Kubrick jemals gefragt, was das alles zu bedeuten hat, was sich in „2001“ abspielt?
Keir Dullea: Nein, weil die Erfahrung meiner Figur sehr subjektiv ist. Was für meine Arbeit wichtig war: Was machen wir Tag für Tag beim Dreh. Womit muss ich umgehen? Ich hatte da keinen Gesamtüberblick, was mit Gary Lockwoods Figur [Dr. Frank Poole] passiert oder mit HAL, als der verrückt wird. Das kam alles völlig überraschend. Es gab keine Diskussionen über die philosophischen Hintergründe - niemals. Wir haben von Tag zu Tag gearbeitet. Deswegen ist der Unterschied vom Drehen des Films so groß zu dem, ihn auf der Leinwand zu erleben.
FILMSTARTS: Was macht „2001“ über diese vielen Dekaden so unsterblich?
Keir Dullea: Keine zwei Menschen auf der Welt haben die exakt gleiche Wahrnehmung von etwas. Hier ist eine Analogie: Viele Leute fragen mich: „Was bedeutet dieser Film?“ Meine Antwort lautet: „Wenn man Beethovens fünfte Symphonie in Worten erklären soll, wie geht das? Deine Hör-Erfahrung hängt auch davon ab, was du selbst miteinbringst. Jeder einzelne wird diese Musik anders erleben.“ Das macht auch „2001“ so einzigartig. Es gibt nicht die eine Erfahrung oder Erklärung für den Film. Nur eines ist klar: Es ist eine Geschichte über den Übergang: vom Aufbruch der Menschheit, über den modernen Menschen zum nächsten Schritt, wie immer der auch aussehen mag – das, was nach uns kommt.
FILMSTARTS: Vielleicht werden wir wiedergeboren?
Keir Dullea: Ja, vielleicht. Es ist ein ständiger Wandel. Der Höhlenmensch entwickelt sich zum modernen Menschen – und am Ende, als meine Figur nach dem Monolithen greift, ist die nächste Einstellung, die wir sehen, der Fötus. In Arthur C. Clarkes Buchvorlage sind die USA und die Sowjetunion engstirnige Gegner, die beide Nuklearwaffen im Orbit haben und sich gegenseitig bedrohen – und erst der Einfluss dieses nächsten Schritts zur Wiedergeburt bringt sie zur Besinnung.
„2010“: Wie sich Keir Dullea die Rolle im Sequel sicherte
FILMSTARTS: Wie hast du die Fortsetzung „2010 – Das Jahr, in dem wir Kontakt aufnahmen“ empfunden, in der du auch mitgespielt hast?
Keir Dullea: Ich habe insgesamt 30 Filme gedreht – und keiner davon hat mich auch nur im Entferntesten an Stanley Kubrick erinnert. Kein Regisseur kam dem nahe, was er war. Peter Hyams [der Regisseur von „2010“] ist ein wunderbarer Mann. Sein Film ist bodenständiger. „2010“ zu gucken, ist nicht so, wie einer Beethoven-Symphonie zu lauschen. Der Film hat aber auch viele Leute befriedigt, weil dort einiges aus „2001“ erklärt wird. Und meine Beteiligung war eher ein Cameo.
Eine kleine Geschichte: Ich drehte damals eine TV-Serie mit Rock Hudson, die nannte sich „McMillan And Wife“ und ich hatte einen Gastaufritt in einer Episode. Ich war also in Los Angeles und habe im Hollywood Reporter gelesen, dass sie eine Fortsetzung von „2001“ drehen wollten. Und niemand war an mich herangetreten. [entrüstet] Ich hatte das Buch gelesen und wusste also, worum es ging. Es war 18 Jahre später. Vielleicht dachten sie, ich sei zu alt. Ich habe sofort MGM angerufen und mich zu Peter Hyams durchstellen lassen. Ich sagte: „Peter, … Mr. Hyams, bevor Sie diesen Film drehen, sollten wir uns treffen.“ Also trafen wir uns zum Mittagessen in den MGM-Studios und am nächsten Tag hatte ich ein offizielles Angebot, den Film zu machen.
FILMSTARTS: Wie war denn dein erstes Treffen mit Stanley Kubrick?
Keir Dullea: Mein erster Kontakt mit Stanley fand am Telefon statt. Ich war gerade in London angekommen und am Morgen klingelte in meinem kleinen Häuschen, das sie mir bereitgestellt hatten, das Telefon. Jemand sagte: „Ich möchte gern mit Keir Dullea sprechen.“ Ich: „Am Apparat.“ Er sagte: „Oh, hi, hier ist Stanley.“ Das war mein Kennenlernen mit Stanley Kubrick. Ich war ein bisschen eingeschüchtert von dem bevorstehenden Dreh, was ich aber schnell ablegte. Ich habe jede Minute unserer Zusammenarbeit genossen.
So war Stanley Kubrick am Set von „2001“
FILMSTARTS: Wie war Stanley Kubrick am Set?
Keir Dullea: Sehr ruhig. Die schlimmste Erfahrung, die ich je am Set gemacht hatte, lag gerade hinter mir. Ich drehte mit Otto Preminger den Film „Bunny Lake ist verschwunden“ mit Laurence Olivier. Dann kam ich nach Hause und meine Frau sagte: „Ruf‘ deinen Agenten an.“ Das habe ich getan. Er meinte: „Sitzt du auch?“ Ich: „Nein, warum?“ Er: „Setz‘ dich besser hin. Du hast gerade das Angebot bekommen, die Hauptrolle in Stanley Kubricks nächstem Film zu spielen.“ Das kam völlig aus dem Nichts. Ich hatte keine Ahnung, dass ich in der Auswahl stand, ich habe weder Stanley oder sonst jemanden, der mit dem Film zu tun hatte, getroffen. Ich hatte einfach dieses Angebot.
FILMSTARTS: Was konntest du mit den ersten Reaktionen auf den Film anfangen?
Keir Dullea: Also, die Weltpremiere war in Washington, D.C., die zweite Premiere in New York. Dort rannten 250 Menschen aus dem Kinosaal. Die Hälfte der Kritiken war furchtbar, wirklich furchtbar – aber bei weitem nicht alle, 50 Prozent fielen auch sehr gut aus. Stanley war offensichtlich enttäuscht. Ich dachte immer noch, wir sind Teil eines großartigen Films. Aber es dauerte eine Weile. Das Studio MGM war besorgt. Aber als die Monate dahinzogen, hat sich der Film finanziell fantastisch entwickelt [Anm. der Red.: „2001“ spielte in Nordamerika 57,5 Millionen Dollar ein, das entspricht heute inflationsbereinig knapp 400 Millionen Dollar] und sie haben realisiert, dass die junge Generation gekommen ist, um diesen Film zu sehen. Viele der jungen Leute rauchten damals „lustige Zigaretten“. Also haben sie später ein neues Poster entworfen: „2001 – Der ultimative Trip“.
FILMSTARTS: Kannst du dich an die Dreharbeiten erinnern: Was war der schwierigste Moment für dich?
Keir Dullea: Rein physisch war das die Szene, in der mich HAL nicht wieder an Bord des Raumschiffs lassen will und die Tür versperrt. Ich habe mich dann in eine Schleuse gerettet, dort gab es keinen Sauerstoff, also musste ich meinen Atem anhalten. Da meine Figur keinen Helm trug, konnten sie keinen Stuntman nutzen. Im Film wurde ich in eine Richtung geblasen. Beim Drehen haben wir die Kamera allerdings anders positioniert, sodass ich im freien Fall heruntergeschmissen wurde - nur an einem Seil befestigt. Zum Glück konnten wir diese anstrengende Szene in einem Take drehen.
Das Drama um die Stimme von HAL 9000
FILMSTARTS: Du hast einen weiteren Film in Cannes…
Keir Dullea: … ja. „Fahrenheit 451“. Dort habe ich einen Cameo-Auftritt.
FILMSTARTS: Habe ich gesehen. In deiner langen Karriere hast du gar nicht so viele Filme gedreht, weil du Theater oft den Vorzug gegeben hast, richtig?
Keir Dullea: Ich habe 30 Filme gedreht. Theater, ja. Das ist eine größere Herausforderung.
FILMSTARTS: In welcher Hinsicht?
Keir Dullea: Man muss wirklich auf den Punkt sehr überzeugend sein. Beim Film könnte ich flüstern, und du würdest mich trotzdem verstehen, weil ich ein Mikrofon trage. Beim Theater müsste ich das ganz anders, viel überzeugender anstellen. Theater ist eine ganzheitliche Erfahrung, von Anfang bis Ende. Beim Film dreht man einfach Szene für Szene, im Theater ist es das Ganze, was einen herausfordert. Aber 30 Filme sind immerhin noch eine Menge.
FILMSTARTS: „2001“ ist dein berühmtester Film. Was hat dieser Auftritt mit deiner Karriere angestellt? War er Fluch und Segen gleichermaßen?
Keir Dullea: Das hatte wirklich keinen großen Effekt. „2001“ war mein siebter Film. Ich bin darauf nicht stolz, weil die Rolle so herausfordernd war, das war wirklich nicht die schwierigste Rolle. Ich bin aber sehr stolz darauf, ausgewählt worden zu sein, in diesem außergewöhnlichen Film mitzuwirken. So einfach ist das. Ich bin mehr angezogen von Figuren, die mir gar nicht ähnlich sind. Bei „2001“ war die Figur nicht so weit weg von mir.
Das Drama um die Stimme von HAL 9000
FILMSTARTS: Wie waren eigentlich deine Szenen mit dem Bordcomputer HAL?
Keir Dullea: Wir hatten eine reale Person, die die Stimme von HAL hinter der Kamera gesprochen hat – die ganze Zeit. Das war dann aber nicht der Schauspieler, dessen Stimme dann im Film verwendet wurde. Stanley konnte sich einfach nicht entscheiden, wer HAL sprechen sollte. Er meinte: „Ich mache mir in der Post-Produktion Gedanken darüber.“ Dann fand er diesen bemerkenswerten kanadischen Schauspieler, Douglas Rain – den Laurence Olivier Kanadas, der dort für seine großen Shakespeare-Rollen bekannt ist. Zuerst sollte der bekannte Schauspieler Martin Balsam HAL sprechen. Aber Stanley sagte: „Oh nein, das ist zu sehr New York.“ [lacht]
Dann heuerte er den Briten Nigel Davenport an, der in der ersten Woche dabei war. Ein toller Schauspieler, aber Stanley meinte, er sei zu britisch. Also verschob er die Entscheidung auf später und landete bei seinem Regieassistenten Derek Cracknell. Stanley sagte ihm: „Du sprichst die Stimme für die Jungs.“ Deswegen klang HALs Stimme während der Dreharbeiten für mich immer ein bisschen wie die von Michael Caine. [imitiert Caines Cockney-Akzent sehr überzeugend]
FILMSTARTS: Bist du mit Stanley Kubrick nach dem Film in Kontakt geblieben?
Keir Dullea: Mit Stanley ist das so: Ich muss ein bisschen ausholen. Malcolm McDowell und Stanley hatten während der Dreharbeiten zu „Uhrwerk Orange“ ein fantastisches Arbeitsverhältnis. Aber danach hielt Stanley keinen Kontakt und ich denke, dass Malcolm das wohl verletzt hat. Mir hat das überhaupt nichts ausgemacht. Ich liebte es, mit ihm zu drehen, aber wenn du mit Stanley arbeitest, wusstest du, dass es für ihn keine andere Welt und kein anderes Leben gibt, als den Film, an dem er gerade werkelt. Und er tüftelte immer an einem Film herum. Schon während „2001“ fing er an, seinen Napoleon-Film vorzubereiten, obwohl der dann nie gedreht wurde. Ich habe es also nie persönlich genommen, dass Stanley nicht mehr kommunizierte. Eines Tages habe ich ihn aber am Set von „Shining“ überrascht, als er gerade drehte. Das war ein schönes Wiedersehen.
FILMSTARTS: Diese große Bühne hier in Cannes war offenbar nichts für Stanley Kubrick. Warum nicht?
Keir Dullea: Er hat überhaupt nur sehr wenige Interviews gegeben. Im Grunde hat er sich nie überhaupt mit der Presse beschäftigt. Er war nie bei einem Filmfestival, das war einfach nicht sein Ding. Er hatte auch nicht das Ego dafür. Vielleicht habe ich ein größeres Ego? Ich weiß auch nicht…
FILMSTARTS: Hast du jemals mit Stanley Kubrick Schach gespielt? Er gilt als großer Fanatiker…
Keir Dullea: Nein, aber Gary Lockwood spielte mit ihm. Es ist sogar im Film. Und Schachspieler werden es bemerken: Da ist ein Fehler auf der Leinwand: Es war nicht schachmatt!