Achtung, großer Spoiler zum Ende von „Ein ganzes halbes Jahr“!
„Ein ganzes halbes Jahr“, Thea Sharrocks Kino-Adaption von Jojo Moyes Bestseller, wird u. a. als „Hochglanz-Schnulze“ (Hollywood Reporter) und als fade Kreuzung aus „Ziemlich beste Freunde“ und „Pretty Woman“ (Variety) kritisiert – und nun auch als Film, der die fatale Botschaft sende, dass das Leben mit Behinderung sinnlos und der Tod ein sinnvoller Ausweg sei. Auf Twitter formiert sich diese Kritik unter dem Hashtag #MeBeforeEuthanasia, in Anspielung auf den Originaltitel „Me Before You“ („Euthanasia“ kann mit „Euthanasie“ und „Sterbehilfe“ übersetzt werden). Der Hollywood Reporter hat außerdem kritische Stimmen von Menschen mit Behinderung gesammelt, die in der Öffentlichkeit stehen – und die Antworten von Jojo Moyes und Thea Sharrock.
Letzte Spoiler-Warnung! Die Geschichte von „Ein ganzes halbes Jahr“ – in Roman wie Film – endet damit, dass William Traynors Wille erfüllt wird: Der junge Mann im Rollstuhl lässt sich töten, Louisa (Emilia Clarke) konnte ihn trotz aller Liebe nicht umstimmen. Zack Weinstein, ein Schauspieler mit Querschnittslähmung, meint: „Die Botschaft des Films lautet, dass es besser für Will ist, für Louisa zu sterben, als zu leben.“ Weinstein habe nichts gegen die Geschichte an sich, die Moyes geschrieben hat – ihn störe, „dass das so oft die einzige Geschichte ist, die erzählt wird.“ Die Regisseurin Jenni Gold („CinemAbility“), auch auf einen Rollstuhl angewiesen, sieht diesen Trend in Hollywood ebenfalls: Im Film sei Behinderung das Schlimmste, was Menschen passieren könne – siehe „Million Dollar Baby“.
Schauspieler Grant Albrecht, der zunehmend die Fähigkeit verliert, zu laufen, wird vom Hollywood Reporter so zitiert: „Wird Wills Behinderung benutzt, um emotional zu manipulieren? Das kann man sicher so machen, aber es ist sehr schwierig für mich, dabei zuzusehen, wie die Fakten meines Lebens als Vehikel dafür genutzt werden. Feigheit zu romantisieren führt in der Tat dazu, dass das Klischee gefördert wird, zulasten echter Menschen mit Behinderung – die darum kämpfen, ihre geistige und materielle Existenz zu sichern und die in Hollywood keine Chancen bekommen.“
Gail Williamson, der neben Weinstein und Albrecht auch etwa 120 andere Schauspieler mit Behinderung vertritt, pflichtet bei: „Normalerweise beschäftigt mich die Frage, warum die nicht jemanden besetzt haben, der wirklich im Rollstuhl sitzt, aber das ist ein viel größeres Problem.“ Williamson habe den Film bereits gesehen und könne ihm einiges abgewinnen, u. a. wegen der „hinreißenden, verschrobenen Liebesgeschichte“. Aber: „Ich glaube, das Publikum kann sich im Film verlieren und dann nicht mal merken, welche Botschaft gegeben wird. Wie viele Zuschauer, die den Film gesehen haben, werden mit der Auffassung aus dem Kino gehen, dass Menschen mit Rückenmarksverletzungen keinen Wert haben?“
Autorin Jojo Moyes, die neben dem Roman auch das Drehbuch zu „Ein ganzes halbes Jahr“ schrieb, wurde dem Hollywood Reporter nach durch den Fall eines verletzten Rugbyspielers inspiriert, der sein Leben mithilfe des Schweizer Vereins Dignitas beendet habe. Man würde der Entscheidung vielleicht nicht zustimmen, „aber es ist sehr schwer, den Betroffenen für seine Entscheidung zu verurteilen, sobald man weiß, wer er ist. Unsere Gesellschaft ist schnell darin, Urteile zu fällen, und du weißt nie, was wirklich im Kopf von jemandem passiert oder welche Erfahrungen jemand machen musste, um diese Entscheidung zu treffen.“
Regisseurin Thea Sharrock sagte im Interview mit dem Hollywood Reporter: „Enttäuschend ist, wenn Leute protestieren, obwohl sie weder das Buch gelesen, noch den Film gesehen haben. Ich habe kein Problem damit, wenn jemand den Film gesehen hat und ihn aus 101 unterschiedlichen Gründen nicht mag. Ich wusste von Anfang an, wie sensibel das Thema ist und wie empfänglich für starke Meinungen. Es stecken große Themen drin, bei denen schnelle Urteile leicht sind.“ Wer sich als Mensch mit Behinderung durch den Film angegriffen fühle, unterliege hinsichtlich der Botschaft einem „fundamentalen Missverständnis“. „Mich sprach die fast traditionelle Liebesgeschichte an, die dahinter steckt. Sie erinnert mich an Filme, die – so denke ich – eine ganze Weile nicht gemacht wurden. Und ich bewundere den Mut der Studios, die diesen Film produzieren wollten. Es ist eine fiktionale Geschichte darüber, wie wichtig das Recht ist, eine Entscheidung treffen zu können. Die Botschaft des Films ist: lebe kühn, streng‘ dich an, gib‘ dich nicht so leicht zufrieden.“
„Ein ganzes halbes Jahr“ mit Sam Claflin und Emilia Clarke startet am 23. Juni 2016 in unseren Kinos.