Wenn mich jemand nach nur einem Gegenwartsregisseur mit einem eindrucksvolleren Gesamtwerk als Valeska Grisebach fragen würde, es brächte mich ganz schön in die Bredouille. Da ist zum einen ihr Debüt, „Mein Stern“ (2001), ein Film, dessen Einfluss auf die Berliner Schule einzig deshalb nicht offenkundiger ist, weil er dieser Tage nirgends geschaut werden kann.
Zwischen diesem Debütfilm, der seinerzeit Grisebachs Abschlussarbeit an der Filmhochschule darstellte (tatsächlich studierte Grisebach sowohl in Wien als auch in Potsdam Babelsberg, weshalb ihr bisweilen ein Hybridstatus zwischen der neuen österreichischen Welle und der Berliner Schule attestiert wird), und dem 2017 in Cannes mit viel Zuspruch aufgenommenen „Western“ stellt „Sehnsucht“ aus dem Jahr 2006 einen Zwischenschritt dar. Zwar denkt dieser konzeptionell noch in kleineren Dimensionen, erreicht jedoch in seiner Rohheit solch emotionale Höhen, wie es sich nur schwerlich erklären lässt.
Ihr seid bereits nach dieser kurzen Einführung neugierig geworden? Dann könnt ihr „Sehnsucht“ derzeit auf der Streamingplattform Mubi sehen.
Das ist "Sehnsucht"
Im Zentrum des Films steht ein Mann namens Markus (Andreas Müller), seines Zeichens Schlosser. Angesiedelt im brandenburgischen Zühlen, einem 200-Seelen-Dorf, pendelt Markus' Leben hin und her zwischen der Garage, dem Haus, in dem er mit seiner Jugendliebe Ella (Ilka Welz) wohnt, und der freiwilligen Feuerwehr, deren Gemeinschaft das Gros seines Soziallebens ausmacht. Auf den ersten Blick scheint es nicht viel mit ihm auf sich zu haben, und wer sähe sich schon bemüßigt, ihm einen zweiten zu schenken. Doch als Markus eines Wochenendes mit der Feuerwehrmannschaft in die nächste Kreisstadt fährt, geraten die Dinge aus den Fugen...
So viel zur Handlung. War weiter oben von Grisebachs Hybridstatus zwischen den Filmschulen – sowohl den Institutionen als auch den Denkschulen – die Rede, so sind auch die Filme selbst von einer faszinierenden Uneindeutigkeit. Das, was sich Handlung nennen ließe, ist hier konsequent mit dem Raum, also dem Schauplatz, verwoben, sodass sich das eine, nehmen wir etwa das häusliche Beziehungsdrama, nicht ohne das andere, hier die geregelte Unregsamkeit des ländlichen Brandenburgs, denken lässt. Schlicht, weil uns Grisebach zeigt, wie der Raum unser Denken selbst beeinflusst.
Ein Robbie-Williams-Tanz für die Ewigkeit
Passend dazu wäre es fahrlässig, hier weiter fortzufahren, ohne auf die Musikauswahl einzugehen, die Grisebachs erste zwei Filme auszeichnet. Insbesondere rückblickend ist es schlicht erstaunlich, wie treffsicher hier der Pop der frühen 2000er nicht einfach genutzt wird, um einen Needle Drop zu setzen oder eine Szene zu untermalen.
Die Songs, die Grisebach wählt, gehören wie die Handlungsorte zur Textur der Welt. Jene Szene, in der Markus allein zu Robbie Williams‘ „Feel“ tanzt, ist für die Ewigkeit. Es ist leicht zu vergessen, welchen Stellenwert diese Radiohymnen spielten, als die Gesellschaft noch nicht flächendeckend auf rauschunterdrückende Kopfhörer zurückgreifen konnte, als es beinah einer Unmöglichkeit gleichkam, nicht so etwas wie ein kommunales Bewusstsein für den populären Zeitgeist zu entwickeln.
Wenn sich Markus also dem vermeintlichen Kitsch des Poptitans Robbie Williams hingibt, hat diese Bewegung zugleich etwas Befreiendes und Beengendes. Es löst ein emotionales Ventil, doch ist in seiner Form quasi unausweichlich, fast schon vorgezeichnet. Markus' Entscheidung, die beinah unmittelbar darauf folgt (vom direkt daran anschließenden nächsten Hit, O-Zones „Dragostea Din Tei“, einmal ganz abgesehen) scheint auf direkte Weise mit diesem Moment verknüpft, wenngleich sich dies erst in der Rückschau so erkennen lässt.
Das, was in anderen Filmen allzu leicht zur Banalität geriete, wird hier zum einschneidenden Moment. Der kürzlich verstorbene Kultur- und Literaturkritiker Fredric Jameson sprach einst von der Unterscheidung zwischen dem Roman und dem Französischen „récit“, was in etwa der deutschen Erzählung oder der Novelle entspricht. Den Unterschied zwischen beiden Formen sieht er in der zeitlichen Dimension: Demnach sei das „récit“ das Erzählte; sei das, was Goethe einst eine „unerhörte Begebenheit“ nannte. Von dieser ließe sich nur erzählen, es sei aber nicht möglich, in die Gegenwart des zurückliegenden Ereignisses vorzustoßen. Dies hingegen sei dem Roman vorenthalten.
Versucht man, diese Kategorien auf das Filmische anzuwenden, so stellt sich das, was in Grisebachs „Sehnsucht“ vermeintlich als Roman daherkommt, letztlich als „récit“ heraus. Ganz so, als ginge es der gebürtigen Bremerin darum, zu illustrieren, dass das große Drama, das ins Leben dieses so unscheinbaren Schlossers Markus eindringt, uns letztlich unzugänglich bleibt. In anderen Worten – man möge es mir verzeihen – es bleibt uns „verschlossen“.
Die Metareflexion, mit der Grisebach einen Schlusspunkt auf ihre Erzählung setzt, stellt sich so weniger als ein narrativer Fluchtpunkt dar, sie ist stattdessen die einzige Möglichkeit, der inneren Verschlossenheit dieser zeitlich abgeschlossenen Erzählung zu entgehen, in ihr mehr zu sehen als das, worauf das Erzählen das Erzählte festlegt.
Und falls es euch heute Abend so richtig warm ums Herz werden soll, haben wir den passenden Streaming-Tipp für euch:
Heute Abend streamen: Dieser herzerwärmende Film mit Denzel Washington ist viel zu unbekannt – gerade jetzt müsst ihr ihn unbedingt schauen!