Wir stellen euch auf FILMSTARTS regelmäßig Highlights auf Netflix vor, Geheimtipps auf Amazon Prime Video und Neuheiten auf Disney+ – denn davon gibt es Monat für Monat schließlich genug. Doch wenn euch ruppige Action mit Liam Neeson, filmgewordene Albträume von Gaspar Noé oder düstere Thriller aus Fernost langsam zum Halse raushängen; wenn Marvel und Co. eurer Meinung nach ohnehin nur noch Fließbandarbeit leisten und euch klassische Streaming-Blockbuster im besten Fall langweilen und im schlimmsten Fall nerven; wenn ihr auf der Suche nach etwas völlig Neuem seid, etwas, das ihr noch nie gesehen habt und das die scheinbaren Grenzen des Kinos sprengt, könnten drei Buchstaben die Lösung für euch sein: „DAU“.
Man könnte „DAU“ nun einfach als Biopic abtun, als Verfilmung des Lebens der sowjetischen Physik-Größe Lew Dawidowitsch Landau. Aber das wäre in etwa so, als würde man das Marvel Cinematic Universe als Kasperletheater für Nerds bezeichnen – klar, ein bisschen trifft das auch zu, aber gleichzeitig ist das MCU eben auch die erfolgreichste Kino-Saga aller Zeiten. Und deswegen solltet ihr auch „DAU“ richtig einordnen: Euch erwartet hier nicht einfach nur ein Biopic, nicht einfach nur ein Film, sondern das Ergebnis eines einzigartigen interdisziplinären Projekts, dessen Entstehung mindestens so spannend ist wie die 13 (!) Filme, die bis dato daraus entstanden sind.
"DAU": Wenn Leben und Fiktion miteinander verschmelzen
Filmemacher Ilya Khrzhanovsky begann bereits 2005 mit der Konzeption und Ausarbeitung seiner Idee von „DAU“, drei Jahre bevor die Kameras schlussendlich liefen – und wie sie liefen: ganze drei Jahre lang: Die Dreharbeiten fanden von 2008 bis 2011 statt. Und nein, an dieser unglaublichen Drehzeit waren weder Komplikationen oder Budgetkürzungen noch Verschiebungen schuld. Doch um zu verstehen, wie es überhaupt zu einer derartigen Ausuferungen kommen kann, muss man den Rahmen kennen, in dem „DAU“ entstanden ist.
Um die Dimensionen von „DAU“ auch nur halbwegs greifbar zu machen: Auf die landesweiten Castings bewarben sich in Russland ganze 392.000 (!!) Frauen und Männer, um Teil des Ensembles zu werden – und zwar nicht einfach nur morgens ans Set zu kommen, seine Szenen zu spielen und abends wieder nach Hause zu gehen. Gedreht wurde hauptsächlich auf dem 12.000 Quadratmeter großen Set des wissenschaftlichen Instituts, der größten Filmkulisse ganz Europas, die für drei Jahre gleichzeitig zum Wohnort (!) für die Darsteller*innen wurde.
Auf dem gigantischen Gelände entstand so eine ganz eigene Welt, eine eigene Gesellschaft, die abgeschottet von der Außenwelt in einer Art Simulation lebte, die drei Jahre lang aufrecht erhalten wurde und die Ära von Lew „Dau“ Landau zwischen 1938 und 1968 rekonstruierte.
Ganze 700 Stunden Film entstanden in dieser Zeit – und zwar nicht etwa digital, sondern auf tatsächlichem Film (35mm). Kameramann Jürgen Jürges („Funny Games“) entwickelte für das „nie schlafende“ Set sogar ein neues Beleuchtungssystem und wurde für seine „herausragende künstlerische Leistung“ sogar mit dem Silbernen Bären bei der Berlinale 2020 ausgezeichnet. Darüber hinaus entstanden im Zuge der Dreharbeiten aber auch ganz nebenbei – ja, ihr lest richtig – Kinder.
So nachvollziehbar das in Anbetracht der kurzzeitigen Gründung einer eigenen Gesellschaft auch wirken mag – und immerhin gibt es in mehreren „DAU“-Filmen auch explizite Szenen zu sehen, in denen die Darsteller*innen ganz offensichtlich auch tatsächlich Geschlechtsverkehr haben und diesen nicht nur „spielen“ –, so unfassbar ist jene Vermengung von echtem Leben und Fiktion am Ende auch. Doch eben jene ist es nun mal auch, die aus „DAU“ so viel mehr als einfach nur einen Film oder ein Film-Universum machen.
Wenn euch das nun neugierig gemacht hat, könnt ihr die „DAU“-Filme auf der offiziellen Website des Kunstprojekts als Video-on-Demand streamen …
... doch gleichzeitig müssen wir auch warnen: Zartbesaitete sollten sich ob der teils schwer verdaulichen, oft sadistischen und nicht selten fragwürdigen Bilder zweimal überlegen, ob „DAU“ etwas für sie ist. Wer hart im Nehmen ist, kann sich aber auf eine einzigartige Erfahrung freuen, die gleichzeitig auch so viele verdammt starke Denkansätze mitbringt, dass einen die Welt von Lew Landau einfach nur faszinieren kann. Und das auch noch lange, nachdem der Abspann des 13. Films vorüber ist.
"DAU": Schocker der besonderen Art
Eines solltet ihr vorab wissen: Die „DAU“-Filme sind ausschließlich auf Russisch verfügbar (keine Sorge, Untertitel gibt's) und funktionieren nicht nach den Regeln des traditionellen Kinos. Bedeutet: Stellt euch darauf ein, kein klassisches Narrativ zu erleben, sondern stattdessen viel mehr als stiller Beobachter in eine Parallelwelt einzutauchen, die nicht selten ebenso still ist – wenn sie dann aber einmal laut wird, öffnet sich damit ein regelrechter Höllenschlund, der sein Publikum in die dunkelsten Abgründe der menschlichen Seele hinab zieht. Denn „DAU“ wirft nicht nur einen erschreckenden Blick in die Vergangenheit, sondern hält in vielerlei Hinsicht auch der heutigen Gesellschaft den Spiegel vor – und lässt damit gewissermaßen auch eine (finstere) Zukunft erahnen.
So ging „DAU. Natasha“ bei der Berlinale 2020 nicht nur ins Rennen um den Goldenen Bären, sondern sorgte sogleich vielerorts für Entsetzen. Schauspielerin Hanna Schygulla, die die vom KGB gequälte und gefolterte Hauptfigur ursprünglich hätte für die deutsche Fassung synchronisieren sollen, verließ etwa die Vorstellung. Und in Russland wurde sogar ein Aufführungsverbot erlassen. Denn Ilya Khrzhanovsky schreckt nicht davor zurück, die erwähnten Gräueltaten ebenso eindringlich wie provokativ in Szene zu setzen und dabei nicht nur einmal die Grenzen des guten Geschmacks zu überschreiten.
Dennoch, der „Natasha“-Film bietet sich hervorragend als Einstieg in das „DAU“-Universum an. Denn er macht etwas mit einem, löst nicht nur Wut oder gar Hass aus, sondern nimmt einen auf eine emotionale Achterbahnfahrt mit – auch wenn bei der am Ende ein Schlag in die Magengrube auf den nächsten folgt. Während andere Filme wie etwa „DAU. Nikita Tanya“, in dem einer der Wissenschaftler des Instituts Besuch von seiner Familie bekommt, zwar wesentlich kürzer ausfallen, können sich eben jene kürzeren „DAU“-Happen aber auch mal ziemlich lange anfühlen. Denn es ist nicht immer einfach, in die (Gefühls-)Welt der Protagonist*innen einzutauchen, wenn man das überhaupt will. Da können selbst 90 Minuten elendslang werden.
Außerdem ist die Natasha-Story auch eine gute Vorbereitung für den meiner Meinung nach nicht nur außergewöhnlichsten und besten, sondern auch am schwersten verdaulichen Film der Reihe (wobei einige „DAU“-Filme und auch Serien bislang noch gar nicht verfügbar sind):
„DAU. Degeneration“ ist über sechs Stunden absolutes Kino, das keine Gefangenen macht – und gehört für uns zu den verstörendsten Filmen aller Zeiten. Das sage und schreibe 369 Minuten lange Mammutwerk erzählt von den unmenschlichen Versuchen, anhand wissenschaftlicher Experimente Supersoldaten zu erschaffen und nimmt sich dabei alle Zeit der Welt, um zu veranschaulichen, was die Ereignisse in den Köpfen sämtlicher Beteiligter auslösen.
Aus konzeptioneller Betrachtung auf zahlreichen Ebenen schlicht herausragend durchdacht und aus ethischer Sicht einige der ungemütlichsten Fragen aufwerfend, die man sich nur stellen kann, mutiert „Degeneration“ vor allem in der zweiten Hälfte zu einem Biest von einem Film, zu purem Chaos, das sein Publikum unweigerlich in einen zerstörerischen Schlund hinab reißt, aus dem es für die Protagonist*innen, die Zuschauer*innen und letztlich die Menschheit kein Entkommen zu geben scheint.
Mehr als bloß Unterhaltung
Nachdem ich mich der Welt von „DAU“ bereits im Frühjahr 2020 hingab, steht eines der bislang veröffentlichten Kapitel nach wie vor auf meiner Watchlist – womöglich einfach nur, weil ich weiß, dass es dann zumindest vorerst vorbei wäre. Wann die nächsten Filme sowie sogar Serien erscheinen, steht derzeit nämlich in den Sternen. Eines muss an dieser Stelle gesagt werden: Mit diesem Streaming-Tipp soll keineswegs eine Reihe an Meisterwerken versprochen werden. Manche Teile wie „Degeneration“ und „Natasha“ sind großes, wenn auch schwer verdauliches Kino, während gerade in den kürzeren Filmen wesentlich mehr Leerlauf stattfindet. Doch darum geht es hier am Ende auch nicht.
Denn auch wenn Ilya Khrzhanovsky die Gefühlswelt seines Publikums durch den Fleischwolf dreht, besteht die Faszination von „DAU“ vor allem daraus, Fragen aufzuwerfen, über deren richtige (?) Antworten man stundenlang philosophieren könnte: Wie weit dürfen Kino sowie Kunst im Allgemeinen überhaupt gehen? Welche Grenzen sollten ihr gesteckt sein? Und wem obliegt es, diese festzulegen? Nach den bisher erschienenen „DAU“-Filmen wissen wir bloß eines: Schöpfer Khrzhanovsky sind die Antworten auf all diese Fragen sowas von egal.
Ihr habt mehr Lust auf eindringliches Kino aus der zweiten Reihe, das euch so schnell nicht loslässt? Dann lohnt sich ein Blick in das folgende Ranking:
Die verstörendsten Filme aller Zeiten