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    Lange verbotenes Horror-Meisterwerk gibt's auf Netflix nun sogar ungekürzt: Unser Streaming-Tipp
    Jochen Werner
    Jochen Werner
    Jochen Werner lebt in Berlin und liebt das Kino. Er schreibt und spricht darüber, u. a. für Filmstarts, Perlentaucher und Deutschlandfunk Kultur, war 14 Jahre Kurator des Pornfilmfestival Berlin, ist Gründer des Stählernen Filmclubs (STUC) und kuratiert die 35mm-Kinospecials im hackesche höfe kino.

    Dario Argentos „Tenebre“ gehört zu jenen Filmen mit einer bewegten deutschen Zensur-Geschichte. Verstümmelt, beschlagnahmt und lange kaum zu bekommen. Mittlerweile gibt’s ihn ungekürzt auf Netflix. Ein Streaming-Tipp unseres Autors Jochen Werner.

    Ascot Elite / Netflix

    „Ein Film wie ein Axthieb!“ – Mit diesem martialischen Werbeslogan kam 1982 Dario Argentos Film „Tenebre“ in die deutschen Kinos. Beziehungsweise das, was davon übrig geblieben war, denn wie so viele Filme des großen italienischen Horror-Auteurs musste auch dieser für eine FSK-Freigabe mächtig Federn lassen. Um mehrere Minuten erleichtert war „Tenebre“ auf den deutschen Leinwänden also von vornherein nur in einer ziemlich blutleeren Fassung zu sehen, bei der es aufgrund der handlungstragenden Funktion so manch einer Splatterszene überdies nicht unbedingt leicht fiel, dem Geschehen überhaupt zu folgen. Geholfen haben freilich auch diese radikalen Kürzungen nichts...

    Im Jahr 1987 wurde diese Torso-Fassung von „Tenebre“ bundesweit beschlagnahmt. Das Verbot bestand ein Vierteljahrhundert lang bis zur Aufhebung im Jahr 2022, und heute kann man diesen einstmals verfemten Film nicht nur überall auf Blu-ray für die eigene Sammlung erwerben, sondern ihn nun sogar jederzeit auf Netflix streamen. The times, they are a-changin‘…

    "Tenebre": Argentos Rückkehr zum klassischen Giallo

    Eine Zeitenwende markiert „Tenebre“ auch im Werk von Dario Argento, ist er doch in gleich mehrerer Hinsicht Ausdruck sowohl von Argentos enormer künstlerischer Sensibilität wie auch einer gewissen Verweigerungshaltung. Mit einer Reihe von Gialli bekannt geworden, hatte Argento sich mit seinem bis heute bekanntesten Film „Suspiria“ 1977 dem übernatürlichen Horrorfilm zugewandt – und diesem dann mit „Inferno“ nicht nur ein ähnlich primärfarbenfrohes Sequel folgen lassen, sondern gleich eine ganze Trilogie der drei Mütter angekündigt. Auf den dritten und letzten Teil hatte Argento dann allerdings ganze 27 Jahre lang ziemlich demonstrativ keine Lust und wandte sich stattdessen lieber wieder dem Giallo zu – mit dessen Form er, wie schon in der Tier-Trilogie am Anfang seiner Karriere, jedoch fortwährend experimentierte.

    Streaming-Tipp: Die unheimlichste Serie auf Netflix – traut ihr euch, sie allein anzusehen?

    Auf den ersten Blick fällt bereits auf, wie sehr sich „Tenebre“ in seiner kühlen Farbgebung von den durch tiefe Rot- und Blautöne geprägten Vorgängern unterscheidet. Auf das Brennende der 70er-Jahre folgen die kalt-metallischen, modernistischen Oberflächen der 80er, und der Kinokünstler Argento kann nicht anders, als das in seinem Filmemachen zu reflektieren.

    Überdies zeigt sich auch einmal mehr, wie sehr Argentos Filme aus ihren Schauplätzen heraus entstehen. In seiner sehr lesenswerten Autobiografie „Fear“ beschreibt Argento immer wieder, wie er manisch durch die Stadt und die Natur streift, wie ein Wünschelrutengänger, um das exakt richtige Haus oder die exakt richtige Landschaft für einen Film zu finden. „Tenebre“ wäre undenkbar ohne den Schauplatz des römischen EUR-Geländes, das Mussolini anlässlich der geplanten Weltausstellung von 1942 erbauen ließ und in dem ein entschiedener Modernismus auf den neoklassischen Größenwahn des Faschismus trifft.

    Ein irrer Plot – doch um Logik ging es Argento nie!

    Durch diese einzigartigen Bauten lässt Argento den Killer von „Tenebre“ schleichen, der Jagd auf den Künstler macht, aber gleichzeitig von der Kunst inspiriert und vielleicht selbst eine Art Künstler ist. Wie so oft bei Argento ist es dabei ein Fremder in einem fremden Land, der dem Monstrum auf die Spur kommen muss: Der Schriftsteller Peter Neal (Anthony Franciosa) reist nach Rom, um seinen neuen Roman „Tenebre“ vorzustellen – und muss dort feststellen, dass ein Serienmörder die Bluttaten aus seinem Roman minutiös kopiert. Dass der Plot im Folgenden eine ganze Reihe von Volten schlägt, die die Grenzen der Wahrscheinlichkeit mitunter hart strapazieren, wird dem Film auch von konservativeren Argento-Fans regelmäßig vorgeworfen – eine Sichtweise, die jedoch auf einem fundamentalen Missverständnis basiert.

    Denn um logisch nachvollziehbare Whodunit-Plots zum Miträtseln ging es Argento nie, eher geht es in all seinen Filmen immer wieder um ein allmähliches Wegrutschen dessen, was wir für die Gesetze der Realität halten. Darum, wie die Traumlogik übernimmt, der feste Boden abhanden kommt und es nichts mehr gibt, dessen wir uns sicher sein können. Nichtmal mehr unserer selbst.

    „Tenebre“ zählt zweifelsohne zu den ganz großen Meisterwerken von Dario Argento und zeigt den Regisseur auf der Höhe seiner Kunst – nach mehr als drei Jahrzehnten jetzt endlich auch ungekürzt und via Netflix auch ausgesprochen einfach zugänglich für das deutsche Publikum!

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