Die Misere der Arbeiter, Lügen und Geheimnisse, das schutzlose Ausgeliefertsein des Menschen in einer gefühlskalten Umgebung – dies sind nur einige der meist trist anmutenden Themen von Mike Leigh. Für seine Komödien war der britische Theater- und Filmregisseur, Drehbuchautor, Schauspieler und Bühnenbildner bisher jedenfalls nicht bekannt – zumindest noch nicht: Mit „Happy-Go-Lucky“ kommt nun ein Mike-Leigh-Film ins Kino, der nicht nur neben „Life Is Sweet“ dem Unterhaltungs-Genre am nächsten kommt, sondern auch einer seiner besten ist!
Fröhlich radelt Poppy (Sally Hawkins) durch Londons Straßen, winkt gelegentlich Passanten zu und ist auch sonst der Sonnenschein in Person. Selbst als sie mit ihrer fröhlichen Art bei einem wortkargen Buchhändler aneckt und beim Verlassen des Ladens plötzlich ihr Rad verschwunden ist, nimmt Poppy es mit Humor – sie hätte sich nur noch gerne vorher von ihrem treuen Gefährt, das ihr so viele Jahre gute Dienste geleistet hat, verabschiedet. Sowieso nimmt die sympathische Grundschullehrerin eigentlich alles mit Humor: Poppy – eigentlich Pauline – ist eine waschechte Frohnatur. Vielleicht ist ihre offenherzige, unvoreingenommene und alberne Art auch der Grund, warum sie bisher noch nicht den Mann fürs Leben gefunden hat. Vielen Menschen ist Poppy nämlich einfach zu schrill. Das geht auch ihrem griesgrämigen Fahrlehrer Scott (Eddie Marsan) so, der mit seiner offensiv-gut-gelaunten Schülerin gar nicht klar kommt. Aber Poppy wäre nicht Poppy, wenn sie sich den stänkernden Scott sonderlich zu Herzen nähme. Stattdessen stürzt sie sich lieber wieder Hals über Kopf in ihren Dauerflirt mit dem Leben…
„Ich habe mich der Aufgabe verschrieben, außergewöhnliche Filme über das gewöhnliche Leben zu machen.“ (Mike Leigh)
Mike Leigh gehört – neben Stephen Frears (Die Queen), Michael Winterbottom (Road To Guantanamo) und Ken Loach (The Wind That Shakes The Barley) – zu den bedeutendsten britischen Regisseuren und zählt außerdem zu den hervorstehenden Vertretern des New British Cinema, das mit ätzender Kritik auf den seit Mitte der 80er Jahre grassierenden Sozialabbau reagiert. Mehr noch als bloße Gesellschaftskritik ist allerdings seine Sympathie für Arbeiter, Außenseiter und Sonderlinge, die dem uvre des 1943 in Salford bei Manchester geborenen Regisseurs seine besondere Note gibt. Leigh möchte mit seinen Werken keine moralischen Urteile treffen, keine Schlüsse ziehen, wie er mehrmals in Interviews betonte, sondern Fragen stellen, auf die er selbst noch keine Antworten weiß. Diesem besonderen Interesse passt sich auch die ungewöhnliche Arbeitsweise des Filmemachers mit Theaterwurzeln an: Leigh arbeitet sehr eng mit seinen Schauspielern zusammen. Lange vor Drehbeginn trifft er sich mit seinem Team, um gemeinsam zu proben und sich kennen zu lernen. Die finalen Drehbücher zu seinen Filmen entstehen erst während dieser intensiven gemeinsamen Arbeit an den Charakteren. Leigh geht es darum, die ganze Welt einer Figur zu erschaffen, ihre Geschichte und ihre Chronologie, die sich in der Zusammenarbeit mit den Schauspielern in einer Mischung aus Improvisation und Recherche Stück für Stück entwickelt.
Dass sich Leighs Herangehensweise lohnt, sieht man an jedem seiner Filme an: „Nackt“, Lügen und Geheimnisse, All Or Nothing und Vera Drake, um nur einige zu nennen, werden allesamt von einmaligen, plastischen und tiefen Figuren bevölkert. In „Happy-Go-Lucky“ ist dies nicht anders: Die Charaktere sind alle so greifbar, dass sie auch aus der direkten Nachbarschaft stammen könnten. Besonders hervorzuheben ist Eddie Marsan, bekannt aus Nebenrollen in The Illusionist oder 21 Gramm, der als psychotischer Fahrlehrer zugleich für Schmunzler und Gänsehaut sorgt. Eine absolut einmalige Leistung vollbringt Sally Hawkins (Cassandras Traum), die zuvor schon in Vera Drake mit Mike Leigh zusammen gearbeitet hat. Sie wurde für ihre einmalig-lebensbejahende Rolle der Poppy auf der diesjährigen Berlinale ohne Frage zu Recht mit dem Silbernen Bären als beste Darstellerin ausgezeichnet.
Mit der Geschichte der Poppy, dieser bemerkenswerten Frau, betritt Leigh, der ja ansonsten eher für seine schwergängigen Kinostücke bekannt ist, nur scheinbar kreatives Neuland. Dem einen mag der Schritt vom düsteren Drama zur lockeren Komödie groß erscheinen, doch eigentlich unterscheidet sich Leighs neueste Arbeit gar nicht so sehr von seinen üblichen Werken. Zwar ist die Stimmung eine andere, doch genau wie bei seinen anderen Filmen geht es Leigh auch hier wieder in erster Line um die Figuren und deren Welt. Seinem Thema, dem Menschsein in einer nicht immer freundlichen Welt, und seiner Verpflichtung gegenüber dem Realismus bleibt Leigh weiterhin treu.
„Ich entdecke den Film, während ich ihn mache.“ (Mike Leigh)
Will man „Happy-Go-Lucky“ in Leighs Gesamtwerk verorten, erscheint er am ehesten wie die Antithese zu seinem Film „Nackt“. Poppy wäre dann Johnnys heller Widerpart. Zur Erinnerung: In seinem Film von 1993 ließ Leigh den ruhelosen Zyniker und Gossenphilosophen Johnny durch das nächtliche London streifen und bei Begegnungen mit den verschiedensten Menschen seine düstere Weltsicht kundtun. Poppy ist, wenn man so will, das genaue Gegenteil. Dort, wo Johnny den Menschen mit Verachtung entgegentritt und seine sprachlichen und intellektuellen Fähigkeiten stets in destruktiver Weise nutzt, geht Poppy mit nahezu grenzenlosem Wohlwollen auf alle Personen zu. Doch Mike Leigh wäre nicht Mike Leigh, wenn er seine Figuren zu Extremen stilisieren würde. Es gibt bei ihm kein Schwarz oder Weiß, kein Gut oder Böse, sondern nur sämtliche Schattierungen dazwischen. Poppy und Johnny lassen niemanden kalt. Johnny ist kein Ungeheuer, sondern eine verlorene Seele, die man nicht so einfach verabscheuen kann. Und obwohl manche Poppy sofort in ihr Herz schließen, wird anderen ob ihrer enervierenden Unbeschwertheit die Schwere des eigenen Lebens bewusst, so dass sie Poppys Art instinktiv mit Ablehnung begegnen werden.
„Happy-Go-Lucky“ heißt soviel wie „unbekümmert“ - und genau so wirkt Poppy. Leichtfüßig huscht sie durchs Leben und wer damit nicht klar kommt, ist selber Schuld. Doch würde man sie einfach als das helle Gegenstück zum düsteren Johnny begreifen, träfe man ebenfalls nicht den Kern der Sache. Beide, Poppy wie Johnny, müssen jeweils feststellen, dass ihre Art, durch die Welt zu wandeln, an Grenzen stößt. Doch während Johnny in „Nackt“ nicht aus seiner Haut kann und das Weite sucht, stellt sich Poppy im entscheidenden Augenblick der Situation und sich selbst. Für Johnny ist dieser Ausweg verschlossen. Dieser Unterschied macht „Nackt“ so traurig und „Happy-Go-Lucky“ so fröhlich.
Fazit: Mike Leigh hat ein weiteres Mal seine einzigartige Fähigkeit unter Beweis gestellt, die Stimmungen von Situationen präzise zu erfassen und vielschichtige Charaktere zu inszenieren. Im Gegensatz zu seinen sonst eher düsteren Stoffen hat er mit „Happy-Go-Lucky“ einen wunderbar lebensbejahenden Film geschaffen, der jedem nur wärmstens ans Herz gelegt werden kann.