Eine Kurzgeschichte von Cornell Woolrich diente Hitchcock als Vorlage für diesen ausgezeichneten, stilistisch einwandfreien, klaren Thriller, in dem er den Zuschauer über die Hauptfigur in den Film direkt hineinzieht.
L. B. Jeffries, von seinen Freunden Jeff genannt, ist leidenschaftlicher Fotoreporter und muss nach einem Unfall, bei dem er sich ein Bein gebrochen hat, zu Hause bleiben und im Rollstuhl sitzen. Eine für ihn tödlich langweilige Situation. Nur zwei Menschen besuchen ihn regelmäßig: Die Krankenschwester Stella (Thelma Ritter) und seine Verlobte Lisa Fremont (Grace Kelly). Um sich Abwechslung zu verschaffen, beobachtet er aus dem Fenster seiner Wohnung die Nachbarn: die einsame Miss Lonelyheart (Judith Evelyn), ein frisch verliebtes Pärchen, das den ganzen Tag im Bett zu verbringen scheint, einen ständig alkoholisierten Komponisten (Ross Bagdasarian) und die oft spärlich bekleidet herumlaufende Tänzerin Miss Torso (Georgine Darcy), auf die alle Männer scharf zu sein scheinen. Stella kommentiert seine Beobachtungslust mit sarkastischen Sätzen wie: „The New York State Sentence for a Peeping Tom (Spanner) is sixth months in the workhouse.“ Oder: „What people ought to do is get outside their own house and look in for a change.“
Zur Nachbarschaft gehören zudem Mr. und Mrs. Thorwald (Raymond Burr und Irene Winston). Mrs. Thorwald ist bettlägerig; beide streiten meistens. Nachdem er eines Nachts durch einen Schrei aufgeweckt wird und ab diesem Zeitpunkt Mrs. Thorwald nicht mehr zu sehen bekommt, beobachtet Jeff Thorwald mit einer Säge, einem Küchenmesser und einem Aluminiumkoffer, den er, ebenso wie das Badezimmer reinigt. Mit dem Koffer verlässt Thorwald mehrfach die Wohnung. Jeff befürchtet, dass hier ein Mord geschehen ist. Doch weder Lisa noch sonst irgend jemand glaubt ihm ...
Hitchcock verführt uns; er zwingt den Zuschauer in „Rear Window“, die Position Jeffs einzunehmen. Das Publikum schaut voyeuristisch auf die Leinwand, Jeff ebenso voyeuristisch in den Hof und die Fenster seiner Nachbarn, benutzt dazu seine Kamera mit Teleobjektiv, ist also verlängertes Auge des Publikums. Über Jeff und seine Kamera lenkt Hitchcock den Voyeurismus des Publikums und macht ihn damit offensichtlich. Der Zuschauer beobachtet Menschen im Film in allen möglichen Situationen. Dabei fällt niemandem auf, dass Kino eben auch und vor allem voyeuristisch ist – egal, was und wen wir anschauen.
Dadurch, dass Jeff als gelangweilter und neugieriger Mittler zwischen seine Nachbarn und das Publikum tritt, liegen der Voyeurismus und vor allem das Bedürfnis danach brach. Dass Jeff dazu noch Fotoreporter ist, macht die Dramaturgie von „Rear Window“ noch durchsichtiger, klarer und enthüllender. „Ich wette, dass von zehn Leuten, wenn sie am Fenster gegenüber eine Frau sehen, die schlafen gehen will und sich auszieht, [...] neun nicht anders können als hinschauen. [...] Sie könnten die Läden schließen. Aber nein, das tun sie nicht, sie schauen hin so lange wie möglich“ (1), kommentierte Hitchcock „Rear Window“. Dann scheint etwas Furchtbares geschehen zu sein und ein weiterer Moment tritt ins Spiel: Die fast vollständige Hilflosigkeit. Nicht nur, dass Jeff niemand glaubt; er und damit der Zuschauer sind an den Rollstuhl gefesselt, können nur die Augen aufsperren, beobachten und sonst nichts. Jeff scheint sich sowieso nur für seine Beobachtungen zu interessieren, jedenfalls wesentlich mehr als für seine Verlobte. Lisa, immer gut angezogen, attraktiv, bringt ihm Champagner, macht ihm das Essen, versucht seine Aufmerksamkeit zu gewinnen; doch Jeff weicht ihrer Nähe aus. Das Publikum ebenso! Denn auch uns interessiert nur, was Jeff beobachtet, vor allem, nachdem er Verdacht geschöpft hat.
In einer Szene beugt sich Lisa über ihn, um ihn zu küssen. Die Kamera zeigt ihre erotische Ausstrahlung, während Jeff sich nicht dafür interessiert. Die ganze Szene wirkt so, als ob Lisa für einen Moment die Kamera für den Versuch benutzen kann, das Publikum hinter sich zu bringen, um Jeff zu sagen: Hör auf mit deiner Besessenheit, die Nachbarn zu beobachten und Verdächtigungen auszusprechen. Schau mich an, meine Schönheit. Unterstützt wird diese Diskrepanz zwischen beiden durch die Beobachtungen selbst. Was sieht Jeff? Alle menschlichen Schwächen sind auf dem Hof, in den anderen Wohnungen versammelt: streitende Paare, ein alkoholisierter einsamer Musiker, eine Tänzerin, hinter der alle Männer her sind, ein kinderloses Paar, das seine ganze Liebe einem Hund widmet usw. – alles Probleme die mit der Liebe und deren Schwierigkeiten verbunden sind. Warum also lieben, heiraten? (Erst später wird Jeff bewusst, dass er in Lisa verliebt ist.)
In einer anderen Szene wird Lisa sozusagen die Kamera wieder entzogen. Sie begibt sich in die Wohnung des vermeintlichen Mörders. Jeff beobachtet sie aus dem Rollstuhl von seiner Wohnung aus. Gefahr droht. Aber an den Rollstuhl gefesselt können Jeff und wir nichts tun. Aber in genau derselben Szene findet Lisa den Ehering des potentiellen Mordopfers, steckt ihn sich an den Finger, zeigt damit zum Fenster hinaus, so dass Jeff ihn sehen kann und schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe: erfolgreiche Nachforschungen im Sinne Jeffs, eine klare Ankündigung der Hochzeit mit ihm im Sinne von Lisa.
Hitchcock führt seine Figuren aufeinander und gegeneinander: die nach Liebe dürstende Lisa, den sich fast schon impotent fühlenden Jeff, dem Voyeur, der nicht weiß, was er mit der Liebe oder gar Ehe anfangen soll, und die dazwischen immer wieder auftauchende Stella, die das Geschehen mit Sarkasmus kommentiert – eingebaut in eine von Risiko, Hilflosigkeit, Verdacht, Indizien, Gefahr gekennzeichnete Geschichte.
James Stewart, Grace Kelly und Thelma Ritter waren ein Traum-Trio für diesen Streifen, in dem Hitchcock überdeutlich den Unterschied zwischen „Surprise“ und „Suspense“ vorführt – in seinen eigenen Worten: Wenn eine Bombe unter einem Tisch explodiert, dann ist das „Surprise“, kurzfristiger Genuss. Wenn wir von der Bombe unter dem Tisch wissen, aber nicht, wann sie hochgeht, dann ist das „Suspense“. Streng nach diesem Grundsatz ist „Rear Window“ konzipiert.
(1) François Truffaut (in Zusammenarbeit mit Helen G. Scott): Truffaut / Hitchcock, München / Zürich 1999 (Diana-Verlag) (Originalausgabe: 1983), S. 179.