Ist die Rede von Hitchcocks größten Filmen, kommt man am Titel “Vertigo” nur schwer vorbei. Ende der 50er Jahre, in einer damals ungünstigen (Nachkriegs-)Zeit, kam das traumwandlerisch-psychologische Thriller-Melodram mit James Stewart und Kim Novak in die Kinos - und wurde von einem Großteil der Zuschauer- wie Kritikerschaft abgelehnt. Heute hat man die Klasse des Films längst erkannt; er gilt als Richtungsweiser und Blaupause für Regisseure vom Schlage eines David Lynch ("Mulholland Drive"), Brian de Palma ("Dressed to Kill") oder Paul Verhoeven ("Basic Instinct"). “Vertigo”, in der übersetzten Form synonym für Schwindel oder Höhenangst, ist eine brillante Reflexion über Sein und Schein, ein manipulatives Spiel um Liebe und Tod mit doppeltem Boden!
Den ehemaligen Polizeibeamten Scottie Ferguson (James Stewart) belasten seit dem Tod eines seiner Kollegen Schuldgefühle. Damals stand ihm seine schwere Akrophobie, sprich Höhenangst, im Wege, so dass er den Mann nicht vor einem Sturz in die Tiefe retten konnte. Heute ist er Privatdetektiv und lebt mit seiner alten Freundin Midge (Barbara Bel Geddes), einer Künstlerin, zusammen. Als er den Auftrag von einem früheren Schulkollegen namens Gavin Elster (Tom Helmore) erhält, dessen Frau Madeleine (Kim Novak) zu beschatten, die selbstmordgefährdet ist und manchmal offensichtlich nicht mehr Herr ihrer Sinne, reagiert Scottie zunächst skeptisch, kommt dann aber der Bitte des Freundes nach. Der Detektiv folgt der geheimnis
vollen Frau auf deren einsamen Streifzügen durch San Francisco und findet ihr Verhalten zunehmend seltsam. Als Madeleine ein wenig später in die Bucht an der Golden Gate Bridge fällt, springt Scottie hinterher und rettet die Frau. Dabei verliebt er sich in sie. Wiederum kurze Zeit später überschattet ein weiteres folgenschweres Ereignis Scotties Gefühle für Madeleine. Die junge Frau stürzt sich ohne Vorwarnung von einem Glockenturm und verstirbt. Der Detektiv verfällt in eine tiefe Melancholie, kann den Tod Madeleines nicht verwinden. Einige Zeit später trifft er jedoch eine Dame, die der Verblichenen wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Diese Frau, die sich als Judy Barton (ebenfalls Kim Novak) ausgibt, weiß angeblich nichts über Madeleine. Doch was Scottie nicht weiß: Judy hütet ein finsteres Geheimnis…
Das Suspense-Kino eines Alfred Hitchcock lebt seit jeher von einem perfekt durchkomponierten Spannungsbogen. In “Vertigo” wird diese Technik auf die Spitze getrieben und bis an die Grenzen “psychologisiert”. Zunächst baut Hitch gekonnt eine Atmosphäre der Unsicherheit auf, in der wir Zuschauer und ebenso die (beiden männlichen) Hauptprotagonisten im Unklaren darüber gelassen werden, was es denn nun mit der Frau, die sich Madeleine nennt, und deren mysteriöser Vergangenheit, auf sich hat. Das Einführen von Figuren, die nicht konkret einzuordnen sind, aber einen Schlüssel zur Lösung des Geschehens zu bergen scheinen, gehört zu den wichtigsten Elementen dieses Suspense. Hitchcock lässt uns lange, sehr lange in der Luft hängen. Ist Madeleine geisteskrank oder paranoid? Der Sprung in die Wasserbucht scheint darauf hinzudeuten, zumal ihr nahe stehende Personen davon sprachen, sie sei von dem Geist ihrer Urgroßmutter Carlotta besessen, deren Bild sie auch immer wieder im Museum aufsucht. In den darauf folgenden Gesprächen mit Scottie gibt sie sich zwar selbstbeherrscht, weist aber merkwürdige Gedächtnislücken auf. Nach dem plötzlichen und erschütternden Tod Madeleines, der Scottie in eine tiefe seelische Verzweiflung stürzt (erstens weil er sich nun erneut verantwortlich für den Tod einer ihm vertrauten Person fühlt und zweitens weil er die Frau, die er liebte, verloren hat), zieht Hitchcock einen völlig neuen Handlungsfaden auf. Die von Unsicherheit und Rätseln dominierte Stimmung weicht nun einer anderen Form des Suspense. Der liebeskranke Scottie glaubt steif und fest, seine Frau sei noch am Leben. Diese Einschätzung beruht aber nicht (oder zumindest nur unbewusst) auf einer festen Überzeugung, sondern mehr auf dem Wunsch, das Tote, das Vergangene zurückholen zu können. Wenn er schon nicht über seine Krankheit hinweg kommt, dann will er wenigstens das wiederhaben, was ihm genommen wurde.
Als Scottie dann tatsächlich eine Frau (Judy) in einem Hotel trifft, in der er das Ebenbild Madeleines glaubt erkannt zu haben, steigert er sich in eine Art Wahn hinein, für den die vielen Schicksalsschläge die Ursache darstellen. Judy hat zwar keine blonden, sondern dunkle Haare, doch ansonsten gleicht sie Madeleine bis auf einige kleinere äußeren Anzeichen exakt. Er überredet Judy, sich mit ihm wieder und wieder zu treffen, was so weit führt, dass Scottie ihr vorschreibt, sich genau wie die Tote zu kleiden und zu stylen. Diesen Wahn seitens von Scottie, den der Zuschauer über weite Strecken eben nur für einen übertriebenen Wahn hält, das in seinen Augen Perfekte, Reine, für sich festzuhalten, lässt Hitchcock kurz darauf, nach einer erklärenden Sequenz, in völlig neuem Licht erscheinen und schafft somit eine emotionale Zwickmühle. Judy kennt Scottie sehr wohl und auch kennt sie Madeleine, weil sie nämlich Madeleine ist. Gavin Elster entpuppt sich auf einmal als die Schlüsselfigur in der durchaus vertrackten Angelegenheit, die Scottie als zentrale Person zum Zweck der Vertuschung eines Mordes instrumentalisieren wollte und nun dadurch, dass Scottie sich in Madeleine verliebt hat, etwas Unvorhergesehenes in Gang gebracht hat. Der Schwindel wird aufgedeckt und weicht einer schicksalhaften Tragödie. Eine wahrhaft schwindelerregende, verblüffende Wendung, die einem den Boden unter den Füßen wegzieht, hier aber im Detail nicht weiter erörtert werden soll. Hitchcock spielt hier sehr schön und elegant die Klaviatur der psychologischen Abgründe, so dass es einem eiskalt den Rücken herunter laufen möchte.
Alfred Hitchcock arbeitet auf mehreren psychologischen Ebenen und mit unterschiedlichen Perspektiven. Die Liebe über den Tod hinaus, die Liebe zu einer Frau, welche lange als Trugbild erscheint, genauso ein Trugbild wie die Liebe zu dieser Frau an sich. Aus dem Grund seiner Höhenangst kann Scottie nicht verhindern, dass sein Kollege stirbt. Aus dem Grund seiner Höhenangst kann er nicht verhindern, dass schließlich Madeleine stirbt. Aber genau genommen hat er dies ja gar nicht verhindern können, weil Madeleine nie gestorben ist. Am Ende fällt Madeleine wirklich vom Glockenturm. Das Schicksal hat zugeschlagen und der Schwindel, der Betrug seitens Judy/Madeleine und Gavin Elster hat seine Opfer gefordert. Der Leidtragende ist im Endeffekt Scottie, der die ganze Zeit nur Instrument zweier Mordkomplizen war. Das Festhalten an der Frau ist fehlgeschlagen, dafür hat er nun seine Höhenangst überwunden. Diesen Schluss mag man deuten, wie man will. Auf jeden Fall ist dies aber eine der beeindruckendsten und cleversten Finals der Filmgeschichte. Was für Judy bzw. Madeleine gilt, hat sie Scottie die ganze Zeit geliebt und nur darauf gewartet, dass er ihrem “zweiten Ich” begegnet. Gestehen kann sie ihm diese Liebe nicht, weil sie dann das ganze Komplott, welches um diese Beziehung gestrickt ist, beichten müsste. Als der Schwindel auffliegt, führt dies unausweichlich in die Katastrophe. “Another thing I have to do now!”, sagt Scottie am Ende. Dieser Satz, den Madeleine zuvor sagte, kurz bevor sie (scheinbar) vom Turm stürzte, bedeutet, dass er ihr zeigen will, dass er die Wahrheit erfahren hat. An einer Halskette, die auch Carlotta auf dem Gemälde trug, hat er sie erkannt. Judy ist in ihrer perfekten Tarnung ein kleiner Fehler unterlaufen…
Auch wenn ich mir nicht ganz sicher bin, ob einige Aufnahmen nicht doch im Studio entstanden, sind die Bilder durchgehend von somnambuler Faszination. Hervorgehoben seien an dieser Stelle zunächst einmal zwei Sequenzen am Anfang und in der Mitte des Films, die verstörende, paranoia-ähnliche Bildspielereien gebrauchen, um den Effekt psychischer Verzweiflung und Hilflosigkeit zum Ausdruck zu bringen. In einem Traum, den Scottie nach dem “Tod” Madeleines hat, sieht man seinen Kopf inmitten von einer Art buntem Kaleidoskop, er fällt hinunter in den gähnenden Abgrund, ins Bodenlose - eine doppeldeutige Szene. Der Abgrund charakterisiert sowohl seinen Zustand und sein zum Scheitern verurteiltes Bestreben, an der ewigen Liebe festzuhalten, wie auch den Fall Madeleines selbst in den Abgrund. Das Fallen steht - neben dem Grundton der Nekrophilie - ohnehin zentral in “Vertigo”. Alleine schon die Höhenangst Scotties impliziert die Angst davor, zu fallen.
“Vertigo” lebt des Weiteren von einer Reihe versteckter und sich stetig wiederholender Symbole. Als Scottie Madeleine auf den Glockenturm folgt, entfernt sich der Boden in seiner Einbildung in rasender Geschwindgkeit immer mehr und wird zum spiralenförmigen Strudel. Jenen Strudel findet man auch andernorts im Film wieder. Nämlich als kleinen Wirbel im Hinterkopf in der Frisur von Madeleine und ebenso in dem Porträt Carlottas im Museum. Dann wäre da noch der rote Speisesaal im Restaurant, in dem sich einige Spiegel befinden, so dass man die vorbeigehenden Personen wie Madeleine aufgrund eines günstigen visuellen Blickwinkels doppelt sieht. Dies ist wohl als Metapher auf Madeleines “Doppelrolle” im Allgemeinen zu verstehen. Beeindruckend auch die Szenen, in denen sowohl Scottie als auch Madeleine den Tathergang aus ihrer Perspektive gedanklich rekapitulieren. Eine dieser Sequenzen beinhaltet auch die Erkenntnis Scotties, dass es sich bei den beiden Frauen um ein und dieselbe Person handelt. Hitchcock zeigt die rote (!) Halskette erst an Judy und kurz darauf an Carlotta auf dem Gemälde. In Carlottas Augen blitzt das Schmuckstück kurz auf. Sie scheint in diesem Moment lebendig zu sein. Eine Gänsehaut-Szene! Überhaupt weiß Hitchcock perfekt mit Lichteffekten und dem Ausleuchten von Szenen umzugehen.
James Stewart, anfangs noch schlichter Sympathieträger mit leichtem Hang zur Selbstironie, wandelt sich immer mehr zur tragischen Figur. Er ist das hilflose Opfer und zugleich das alles entscheidende Rädchen in der Aufklärung des Todesfalles, weil er sich in Madeleine verliebt. Kim Novak steht in der Tradition der so genannten “kühlen Blonden”, die bei Hitchcock und beim film noir im Allgemeinen so beliebt war, die mysteriöse Frauenrolle, die ein Geheimnis birgt. Weiterhin sind Barbara Bel Geddes und Tom Helmore mit dabei, wenngleich die Geddes mit dem Mord/Selbstmord selbst gar nichts zu tun hat, sondern eher als psychische Stütze und beste Freundin Scotties fungiert. Die Musik schrieb erneut Bernard Hermann, der hier wohl eine seiner besten Arbeiten unter Hitchcock ablieferte und dessen Stil wie immer unverkennbar ist.
Alfred Hitchcocks “Vertigo” ist eine dunkle Thriller-Tragödie, die sich mit voranschreitender Laufzeit immer tiefer in seelische Abgründe verstrickt und den Zuschauer vollends in ihren Bann zieht. Ein filmischer Drahtseilakt zwischen logisch aufzuklärender, nüchterner Realität und dem träumerischen, eleganten Stil der (Film-)Kunst.