Das in der Filmbranche häufig bemühte Schlagwort des „zeitlosen Klassikers“ ist im Grunde ein Klischee. Nur wenige der in ihrer Epoche stilbildenden und herausragenden Werke sind wirklich zeitlos und für kommende Generationen von aktueller Bedeutung. Auf Mike Nichols’ Tragikomödie „Die Reifeprüfung“ aus dem Jahr 1967 trifft dieses seltene Prädikat jedoch ohne Zweifel zu. Sein Film ist in der Essenz das Vorbild für alle daraufhin folgenden Coming-Of-Age-Komödien. Nichols’ brillant gespielte und genial montierte Gesellschaftssatire avancierte mühelos zum Kult und machte den damals unbekannten Dustin Hoffman zum Star.
Der junge Benjamin Braddock (Hoffman) steht kurz vor seinem 21. Geburtstag und weiß plötzlich nicht mehr, was er mit seinem Leben anfangen soll. Das College hat er mit Auszeichnung abgeschlossen, seine Eltern (William Daniels, Elisabeth Wilson) sind reich und ihrem Sohn stehen alle Türen offen. Aber Benjamin ist schüchtern, deshalb lässt er sich auch nur widerwillig auf eine Affäre mit der reifen, verheirateten Mrs. Robinson (Anne Bancroft) ein. Die Robinsons sind die besten Freunde der Braddocks, aber das stört Mrs. Robinson nicht weiter. Sie will sich mit Benjamin im Bett ihre Langeweile vertreiben. Erst als der sich unsterblich in Elaine (Katharine Ross) - die Tochter der Robinsons - verliebt, wird es kompliziert...
Der in Berlin geborene und 1939 mit seinen Eltern geflüchtete Amerikaner Mike Nichols („Die Waffen der Frauen“, „Hautnah“) hatte in den USA mit seinem Debüt „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ für Aufsehen gesorgt. Schon bei seinem zweiten Leinwandwerk, aus der Feder von Calder Willingham und Buck Henry, standen die Stars Schlange, um mitzuspielen. Sie hatten es scheinbar alle geahnt, was sich anbahnte. Der Regie-Oscar für Nichols und Nominierungen für Hoffman, Bancroft, Ross, das Drehbuch und die Kameraarbeit sprechen im Nachhinein eine klare Sprache. Dabei war das Duo Dustin Hoffman/Anne Bancroft gar nur die vierte Wahl, auf die sich alle einigen konnten. Nach Warren Beatty und Robert Redford sollte Charles Grodin den Benjamin Braddock spielen, doch der verlangte zuviel Geld. Nichols wählte Hoffman, weil der bei den Probeaufnahmen so unsicher und linkisch wirkte und somit wie geschaffen war für die Darstellung des Benjamin Braddock. Dass Hoffman bereits 30 Lenze auf dem Buckel hatte, spielte auch keine Rolle, da er den Collegeboy trotzdem glaubhaft machen konnte. Auf der Seite der Damen waren zunächst Jeanne Moreau, Patricia Neal und sogar Doris Day für den Part der verführerischen Mrs. Robinson vorgesehen. Selbst Hoffmans alter Freund und einstiger WG-Mitbewohner Gene Hackman hatte kurzfristig eine Rolle in den Film, wurde aber nach einigen Wochen als Mr. Robinson wieder gefeuert.
Was „Die Reifeprüfung“ über die Jahre hinweg universell gemacht hat, ist nicht die sehr simpel und überschaubar gehaltene Handlung. Denn rein formal passiert gar nicht viel und Überraschungen gibt es auch kaum. Es sind die Charaktere, die haften bleiben. Mit dem Film leitete Nichols das Ende des stockkonservativen, prüden Amerikas ein. Die sexuelle Revolution und das physische wie emotionale Auflehnen gegen das Heile-Welt-Vorort-Idyll geriet hier zur Spielart. Die dekadent-zügellose Mrs. Robinson - ihr Vorname wird übrigens nicht einmal erwähnt - will sich mit ihrem jungen, unerfahrenen Gespielen, der offensichtlich noch Jungfrau ist, amüsieren - ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Konventionen. Anne Bancroft brilliert in ihrer Darstellung mit reichlich unterkühltem Sexappeal und emotionaler Kontrolle, die nur einmal aus dem Gleichgewicht gerät. Sie weiß, was sie will und nimmt es sich einfach. Dem steht der naive Jüngling Benjamin gegenüber, der ihr zunächst hilflos ausgeliefert ist. Wirkt er am Anfang noch wie der Prototyp des netten, hochgebildeten All-American-Guys, so merkt der Zuschauer erst langsam, dass Benjamin Braddock einer der ersten großen Anti-Helden der Filmgeschichte ist. Von seinen Eltern bekam er bis zu seinem College-Abschluss alles vorgeschrieben, sodass er keinen eigenen Antrieb entwickelt hat. In einer legendären Schlüsselszene wird ihm dies schlagartig klar. Benjamin soll sein Geburtstagsgeschenk, einen Taucheranzug, den Gästen vorführen. Doch unter dem Anzug und der Maske wirkt er völlig isoliert von der Außenwelt - genau wie im richtigen Leben.
Benjamin rebelliert fortan still und leise gegen die Vorschriften, trifft eigene Entscheidungen. Dustin Hoffmans Schauspielleistung ist schlicht eine Offenbarung. Wie er aus dem schüchternen Musterschüler, den stillen aber in letzter Konsequenz willensstarken Rebellen formt, ist herausragend gespielt und gipfelt in der wohl berühmtesten Szene des Films, in der er seine Geliebte Elaine in der Hochzeitskirche aus den Fängen des drögen Carl (Brian Avery) befreit und zuvor wie ein Irrwisch gegen die gläsernen Panoramafenster hämmert. Diese Sequenz bündelt die komplette aufgestaute Emotionalität, die vorher unter der Oberfläche schwelte. Katharina Ross ist die Dritte im Bunde, die „Die Reifeprüfung“ prägt. Mit Natürlichkeit, Schönheit und Charme macht sie in jeder Minute glaubhaft, warum Benjamin gegen alles anläuft, um sie zu kriegen.
Neben den schauspielerischen Leistungen glänzt der Film durch seine atemberaubende Bildsprache, die eine einzigartige, fiebrige Atmosphäre verbreitet. Im Mittelteil zelebriert Nichols poetische Bildcollagen, die er kongenial mit nachdenklichen Klängen von Simon & Garfunkel („Mrs. Robinson“, „The Sound Of Silence“, „Scarborough Fair“) unterlegt. Es sind auch die kleinen Details, die den Film groß machen. In einer Szene läuft Hoffman von der rechten Seite der Leinwand zur linken hinaus, während alle anderen von links nach rechts gehen, was in der westlichen Welt als Standard definiert wird. Diese kurze Einstellung symbolisiert hochgradig elegant Benjamins Charakter. Das Gefühl der Ziellosigkeit, das er erfährt, ist zeitlos und kann von vielen Heranwachsenden heute und in den nächsten Jahrzehnten nachempfunden werden. So kann jede Generation Mike Nichols’ Meisterwerk neu für sich entdecken.