Es kommt nicht selten vor, dass ich nach dem Genuss eines Films wie „Marathon Man“ sehnsüchtig auf vergangene Filmperioden zurückblicke und der heutigen Generation von Drehbuchautoren und Regisseuren wünsche, sie möge sich eines besseren belehren. John Schlesinger („Asphalt Cowboy“, 1969; „Fremde Schatten“, 1990; „... und der Himmel steht still“, 1993) bemühte 1976 keinen anderen als William Goldman, um das Drehbuch auf Grundlage dessen eigenen Romans für eine Schauspielergarde der Spitzenklasse zu schreiben. Die fünf Hauptfiguren des Films - Hoffman, Olivier, Scheider, Devane und Keller – sind eine Art explosive Mischung für eine Story, in der ganz unterschiedliche Charaktere in einer mehr als brenzligen Situation für alle Beteiligten aufeinander treffen.
Thomas Babington Levy (Dustin Hoffman), genannt Babe, ist Student der Geschichte und schreibt an einer Dissertation u.a. über die McCarthy-Ära, der sein Vater (Allen Joseph) zum Opfer gefallen ist. Er ertrug die Verfolgungen und Demütigungen durch den sog. „Ausschuss gegen unamerikanische Umtriebe“ nicht und beging Selbstmord. Babe läuft Marathon, jeden Tag übt er im Central Park und dreht seine Runden an dem berühmten Gitter des Sees entlang. Mehr oder weniger durch Zufall wird Babe in eine Geschichte verwickelt, in der sein älterer Bruder Henry (Roy Scheider), genannt Doc, eine nicht unmaßgebliche Rolle spielt. Doc hat Babe gegenüber immer behauptet, er sei für ein Industrieunternehmen tätig; aber in Wirklichkeit arbeitet er für eine Spezialeinheit der CIA.
Babe lernt in der Universitätsbibliothek Elsa Opel (Marthe Keller) kennen, die ihn fasziniert, der er nach Hause folgt, und die seinem Drängen, sich wiederzusehen, nachgibt. Als beide im Park von zwei Männern überfallen werden, benachrichtigt er Doc, den er schon lange nicht mehr gesehen hat.
Zur selben Zeit bereitet sich Christian Szell (Laurence Olivier) irgendwo in Südamerika auf seine Einreise in die USA vor. Szell war einer der brutalen KZ-Ärzte in Auschwitz, Zahnarzt, und will sich in New York Diamanten unter den Nagel reißen, deren Beschaffung sein Bruder Klaus (Ben Dova) organisieren soll. Klaus Szell allerdings wird in einem Streit mit einem jüdischen Autofahrer in einen Unfall verwickelt, der beiden den Tod bringt. Die Ereignisse überschlagen sich, als plötzlich Doc blutüberströmt in Babes Wohnung auftaucht und in den Armen seines Bruders stirbt. Die Ermittlungen führt Peter Janeway (William Devane), der Babe eröffnet, dass Doc für die CIA gearbeitet hat. Und dann tauchen zwei Männer, Karl und Erhard (Richard Bright, Marc Lawrence), auf, die Babe in ein abgelegenes Industriegelände entführen, wo er die Bekanntschaft Christian Szells machen muss. „Is it safe?“, fragt Szell Babe, der gefesselt auf einem Stuhl einer besonderen Behandlung seiner Zähne entgegensehen muss und keine Ahnung hat, was diese Frage bedeuten soll ...
Mehr zu verraten, wäre zu viel. Denn Schlesingers Film lebt von den überraschenden Wendungen einer Geschichte, in die Babe, ein intelligenter, eigenwilliger und ganz auf die Geschichte seiner Familie konzentrierter junger Mann, unversehens verstrickt wird. Man führt Babe an der Nase herum, bis sein Sport, der Marathonlauf, ihm (u.a. jedenfalls) das Leben rettet. Hoffmans Babe ist nicht der typische Durchschnittsstudent jener Jahre, eher ein introvertierter junger Mann, der vor allem Geschichte studiert, um seine eigene Vergangenheit zu durchleuchten und den Schmerz über den Tod seines Vaters zu überwinden. Conrad L. Halls (der auch „American Beauty“ 1999 fotografierte) effektvolle Bilder, die eine durchweg düstere Atmosphäre des New York der 70er Jahre wiedergeben, kulminieren in Szenen wie der „Is it safe“?-Sequenz, einer weiteren in einem abgelegenen Haus weit außerhalb der Millionenstadt, in kurzen Rückblenden auf Vater Levy, der Flucht Babes in einem Marathonlauf um sein Leben über die Highways der Stadt im Dunkeln, einem Zweikampf in einem mit viel Aufwand nachgebauten Wasserwerk usw. Der einzige lebendige Gegenpunkt neben Hoffman, der um sein Leben kämpft, ist das jüdische Viertel, in dem ein geschäftiges Treiben herrscht.
Neben den Überraschungseffekten lebt „Marathon Man“ von seine Hauptfiguren. Olivier, der für seine Rolle eine Oscar-Nominierung erhielt, spielt einen skrupellosen, psychopathischen Nazi, der in Auschwitz von den malträtierten Gefangenen wegen seiner Haarfarbe „Der weiße Engel“ genannt wurde. Als ich den Film vor langer Zeit das erste Mal sah, ging mir durch den Kopf: Diesem Mann, Olivier, möchtest du in nächster Zeit lieber nicht über den Weg laufen. Olivier spielt überzeugend, furchterregend, lässt zugleich aber auch die Krankhaftigkeit eines Mannes in entscheidenden Momenten (wenn es um Gewinn oder Verlust der Diamanten geht) durchscheinen, der alles aus dem Weg räumt, um sein Ziel zu erreichen. Hoffmans Babe ist sozusagen das genaue Gegenteil dieses nazistischen Egozentrikers, der im Laufe der Handlung im Angesicht der Lebensgefahr viel Energie entwickelt – und das nicht nur beim Laufen – und zudem sich einiges einfallen lassen muss, um gleichzeitig der Wahrheit näher zu kommen und sich zu retten. Roy Scheider spielt hier ebenso grandios wie etwa fünf Jahre zuvor in William Friedkins Klassiker „French Connection“ an der Seite Gene Hackmans. Scheiders Doc würde für seinen „kleinen“ Bruder alles tun, ist jedoch zugleich in dunkle Machenschaften verwickelt und auf eine bestimmte Weise ebenso skrupellos wie sein Kollege, Devanes Janeway. William Devane schien diese Rolle in jenen Jahren auf den Leib geschnitten; ich erinnere nur an Hitchcocks „Family Plot“ („Familiengrab“, ebenfalls 1976), in dem er einen skrupellosen Juwelier spielte. Marthe Keller schließlich (die für ihre Rolle englisch lernen musste) steht in gewisser Hinsicht zwischen den Fronten als Verräterin hier, verliebte Frau dort.
Aus dieser Figurenkonstellation heraus entwickelt sich ein erheblicher Teil der Verve und der Spannung von „Marathon Man“.
Ein grandioser Thriller, ein exzellentes Drehbuch, hervorragende Schauspieler und ein phantastisch von Hall fotografierter Film machen „Marathon Man“ zu einem meiner persönlichen Klassiker.